Einen Augenblick schien es, als spielte dieses Geblödel auf Smileys kostbarste Geheimnisse an. »Ja«, bestätigte er schwach.
An Irinas Anwesenheit in Hongkong war nichts Ausgefallenes, und es war nicht einzusehen, daß Thesinger davon wissen mußte, erklärte Tarr. Sie war gelernte Textilverkäuferin: »Nebenbei, sie war bedeutend fähiger als ihr Alter, wenn ich ihn so nennen darf. Sie war keine Schönheit, ein bißchen blaustrümpfig für meinen Geschmack, aber sie war jung, und ihr Lächeln reizend, als sie zu weinen aufhörte.« Tarr malte ein Genrebildchen. »Sie war ein nettes Mädchen«, betonte er, als müsse er sie gegen eine Mehrheit verteidigen. »Als Mr. Thomas aus Adelaide in ihr Leben trat, war sie völlig am Ende vor Sorgen, was sie mit dem verteufelten Boris anfangen sollte. Für sie war ich der Engel Gabriel. Wem konnte sie von ihrem Mann erzählen, ohne damit die Hunde auf ihn zu hetzen? Sie hatte in der Delegation keine Freunde, auch zu Hause in Moskau hatte sie niemanden, dem sie vertrauen konnte, sagte sie. Niemand, der das nicht selber mitgemacht habe, könne je wissen, was es bedeute, eine zerbrochene Verbindung weiterzuführen, wenn man ständig unterwegs sei.« Smiley war wieder in tiefe Trance verfallen. »Ein Hotel nach dem anderen, eine Stadt nach der anderen, und nirgends dürfe man auch nur unbefangen mit den Einheimischen sprechen oder von einem Fremden ein Lächeln entgegennehmen, so hat sie ihr Leben beschrieben. Sie fand das einen recht erbärmlichen Zustand, Mr. Smiley, wofür Gott und alle Heiligen und die leere Wodkaflasche neben dem Bett als Zeugen herhalten mußten. Warum konnte sie nicht sein wie normale Menschen? fragte sie immer wieder. Warum konnte sie sich nicht der lieben Sonne freuen, wie alle anderen? Sie liebte Reisen, sie liebte fremde Kinder, warum konnte sie nicht ein eigenes haben? Ein Kind, das in der Freiheit zur Welt kam, nicht in der Gefangenschaft. Sie wiederholte ständig: In der Gefangenschaft geboren, freigeboren. >Ich bin ein fröhlicher Mensch, Thomas. Ich bin ein normales, umgängliches Mädchen. Ich mag die Menschen: warum muß ich sie betrügen, wenn ich sie liebe?< Und dann sagte sie, zu ihrem Unglück habe man sie schon vor langer Zeit für eine Arbeit bestimmt, die eine gefühllose alte Frau aus ihr mache und sie von Gott trenne. Deshalb habe sie auch einen Schluck trinken müssen und sich ausweinen müssen. Ihren Mann hatte sie inzwischen ganz vergessen, sie rechtfertigte sich nur noch für ihren Suff.«
Wieder zögerte er. »Ich konnte es wittern, Mr. Smiley. Sie war Gold wert. Hab's vom ersten Moment an gewittert. Wissen ist Macht, heißt es, Sir, und Irina hatte diese Macht, genauso wie sie die Fähigkeiten dazu hatte. Sie war vielleicht ein verrücktes Huhn, aber dennoch - sie konnte ganz und gar in einer Sache aufgehen. Ich kann die Großzügigkeit in einer Frau spüren, wenn sie vorhanden ist, Mr. Smiley. Dafür bin ich begabt. Und diese Frau war ganz und gar von Großzügigkeit durchdrungen. Herrje, wie soll man so ein Gespür beschreiben? Manche Leute können Wasser unterm Boden riechen . . .«
Er schien irgendeine Sympathiekundgebung zu erwarten, also sagte Smiley: »Ich verstehe« und zupfte sich am Ohrläppchen. Tarr beobachtete ihn mit einem seltsam erwartungsvollen Gesichtsausdruck und schwieg noch eine ganze Weile. »Am nächsten Morgen machte ich als erstes die Buchung rückgängig und zog in ein anderes Hotel«, sagte er schließlich. Smiley öffnete abrupt die Augen: »Was haben Sie London gesagt?«
»Nichts.«
»Warum nicht.«
»Vielleicht, weil ich glaubte, Mr. Guillam würde sagen, >Kommen Sie heim, Tarr<«, antwortete er mit einem schlauen Blick auf Guillam, der nicht erwidert wurde. »Wissen Sie, vor langer Zeit, als kleiner Junge, habe ich einmal einen Fehler gemacht und bin auf ein Lockvöglein reingefallen.«
»Er hat sich von einer Polin zum Narren halten lassen«, sagte Guillam. »Ihre Großzügigkeit hat er auch gespürt.«
»Ich wußte, daß Irina kein Lockvogel war, aber ich konnte nicht erwarten, daß Mr. Guillam mir glauben würde.«
»Haben Sie es Thesinger erzählt?«
»Kein Gedanke!«
»Welchen Grund haben Sie London für Ihre Verspätung angegeben?«
»Ich hätte am Donnerstag abfliegen sollen. Ich schätzte, daß mich zu Hause niemand vor Dienstag vermissen würde. Zumal, da Boris eine taube Nuß war.«
»Er hatte keinen Grund angegeben, und die Personalabteilung führte ihn ab Montag unter >Unentschuldigtes Fehlen<«, sagte Guillam schroff. »Er hat sämtliche eisernen Regeln gebrochen, und noch ein paar dazu. Mitte der Woche rührte sogar Bill Haydon die Kriegstrommeln. Und ich mußte es mir anhören«, fügte er erbittert hinzu.
Wie dem auch gewesen sein mochte, Tarr und Irina trafen sich am nächsten Abend wieder. Desgleichen am übernächsten. Das erste Rendezvous fand in einem Cafe statt und war eine lahme Sache. Sie mußten sich schrecklich in acht nehmen, nicht gesehen zu werden, denn Irina war ganz krank vor Angst, nicht nur vor ihrem Mann, sondern vor den auf die Delegation angesetzten Sicherheitsbeamten, den Gorillas, wie Tarr sie nannte. Sie wollte nichts trinken und zitterte dauernd. Am zweiten Abend wartete Tarr immer noch auf ihre Großzügigkeit. Sie fuhren mit der Tram hinauf zum Victoria Peak, eingekeilt zwischen amerikanischen Matronen mit weißen Söckchen und Lidschatten. Am dritten mietete er einen Wagen und fuhr sie in den New Territories herum, bis sie plötzlich das Zittern kriegte, weil sie so nah an der chinesischen Grenze waren, also mußten sie schleunigst kehrtmachen. Trotz alledem hatte die Fahrt ihr Spaß gemacht und sie sprach oft davon, wie schön es gewesen sei, die Fischteiche und die Reisfelder. Tarr hatte es auch Spaß gemacht, denn jetzt wußten sie beide, daß sie nicht beschattet wurden. Aber Irina hatte immer noch nicht ausgepackt, wie er es ausdrückte.
»Und jetzt will ich Ihnen sagen, was sich bei diesem Stand der Dinge Komisches herausgestellt hat. Anfangs habe ich Thomas von Australien überstrapaziert. Hab' ihr eine Menge blauen Dunst vorgemacht über eine Schafzucht in der Umgebung von Adelaide und einen eigenen Laden in der Hauptstraße mit Glasfront und Thomas als Star. Sie glaubte mir nicht. Sie nickte und tat als ob und wartete, bis ich mein Stückchen aufgesagt hatte, dann sagte sie >Ja, Thomas, nein, Thomas < und wechselte das Thema.« Am vierten Abend fuhr er sie zu den Hügeln über North Shore, und Irina gestand Tarr, daß sie sich in ihn verliebt habe und daß sie für die Zentrale in Moskau arbeite, sie und ihr Mann, und daß sie wisse, daß auch Tarr vom Bau sei, das sehe sie an seiner Umsicht und an der Art, wie er mit den Augen lausche. »Sie war zu dem Schluß gekommen, ich sei ein britischer Oberst vom Geheimdienst«, sagte Tarr ohne eine Spur von Lächeln. »Sie weinte und lachte im nächsten Moment, und meiner Meinung nach war sie auf dem besten Weg, meschugge zu werden. Halb redete sie wie eine übergeschnappte Groschenheft-Heldin, halb wie ein nettes einfaches Vorstadtmädchen. Kein Volk liebte sie so wie die Engländer. Gentlemen, sagte sie immer wieder. Ich hatte ihr eine Flasche Wodka mitgebracht, und sie hatte sie in ungefähr fünfzehn Sekunden halb ausgetrunken. Ein Hoch auf die englischen Gentlemen. Boris war der Vormann und Irina seine Assistentin. Es war eine Partner-Nummer, und eines Tages wollte sie mit Percy Alleline sprechen und ihm ein großes Geheimnis ins Ohr sagen. Sie kannte die großen Tiere des Circus, wie ein Junge seine Fußball-Kanonen kennt. Boris war auf Fischfang nach Geschäftsleuten in Hongkong und betreute nebenbei einen Briefkasten für die dortige sowjetische Dienststelle. Irina erledigte Gänge, entzifferte die Mikro-Punkt-Informationen und funkte die abgehenden Nachrichten in überhöhter Geschwindigkeit, damit sie nicht abgehört werden konnten. So las es sich auf dem Papier, verstehen Sie? Die beiden Nachtclubs waren Treffpunkte für Boris' lokale Verbindungen. Aber Boris wollte weiter nichts als trinken und den Tanzmädchen nachstellen und Depressionen haben. Oder fünfstündige Spaziergänge unternehmen, weil er es nicht im gleichen Zimmer mit seiner Frau aushielt. Und Irina tat nichts anderes als heulen und sich vollaufen lassen und sich ausmalen, wie sie allein mit Percy am Kamin saß und ihm alles erzählte, was sie wußte. Ich ließ sie sich aussprechen, dort oben auf dem Hügel im Wagen. Ich habe keinen Mucks getan, weil ich den Zauber nicht brechen wollte. Wir sahen zu, wie die Dämmerung sich über den Hafen senkte und der liebliche Mond darüber aufging und die Bauern mit ihren langen Stangen und ihren Kerosinlampen vorüberglitten. Fehlte nur noch Humphrey Bogart im Smoking. Ich hielt die Wodkaflasche unter Verschluß und ließ sie reden. Ich regte keinen Muskel. Tatsache, Mr. Smiley, Tatsache«, erklärte er mit der Hilflosigkeit eines Mannes, der um Glauben bettelt, aber Smileys Augen waren geschlossen und er war taub gegen jeden Anruf.