Vielleicht hatte die Musik schon eine ganze Weile gespielt, und Smiley hörte sie erst jetzt. Sie drang in Fetzen aus verschiedenen Teilen des Hauses zu ihm: eine Tonleiter auf der Flöte, ein Kinderlied von einem Bandgerät, ein beherztes intoniertes Geigensolo. Die zahlreichen Lacon-Töchter erwachten.
Ein russisches Tagebuch, das allen spanisch vorkommt
»Vielleicht war sie wirklich krank«, sagte Smiley sachlich, mehr zu Guillam als zu einem der anderen. »Vielleicht war sie wirklich im Koma. Vielleicht wurde sie von echten Pflegern weggebracht. Nach dem, wie sie sich anhört, war sie ziemlich durchgedreht, gelinde gesagt.«
Mit einem Seitenblick zu Tarr fügte er hinzu: »Schließlich waren zwischen Ihrem ersten Telegramm und Irinas Abflug erst vierundzwanzig Stunden vergangen. Bei diesem knappen Timing können Sie die Schuld kaum London in die Schuhe schieben.«
»Eben doch«, sagte Guillam und blickte zu Boden. »Es ist äußerst knapp, aber es funktioniert gerade, wenn jemand in London . . .« - sie warteten alle - »wenn jemand in London Dampf dahinter macht. Und in Moskau ebenfalls, natürlich.«
»Genau das habe ich mir auch gesagt, Sir«, sagte Tarr voll Stolz in Beantwortung von Smileys Argument, während er Guillams Einwurf ignorierte. »Meine Rede, Mr. Smiley. Immer mit der Ruhe, Ricki, sage ich mir, wenn du nicht verdammt aufpaßt, schießt du noch auf Gespenster.«
»Oder aber die Russen haben sie geschnappt«, fuhr Smiley unerbittlich fort. »Die Beschatter haben von Ihrer Affäre Wind gekriegt und sie aus dem Verkehr gezogen. Es wäre ein Wunder, wenn sie es nicht rausgekriegt hätten, so wie ihr beide euch benommen habt.«
»Oder sie hat es ihrem Mann gebeichtet«, gab Tarr zu bedenken. »Ein bißchen verstehe ich auch von Psychologie, Sir. Ich weiß, was zwischen Mann und Frau passieren kann, wenn sie sich überworfen haben. Sie will ihm weh tun. Um ihn zu reizen, eine Reaktion zu provozieren, dachte ich mir. >Soll ich dir sagen, was ich getan habe, während du auf deinen Sauftouren warst? < - so in dieser Art. Boris geht auf der Stelle hin und erzählt's den Gorillas, sie ziehen ihr eins über und schaffen sie nach Haus. Ich bin alle diese Möglichkeiten durchgegangen, Mr. Smiley, glauben Sie mir. Ich habe sie durchgearbeitet. Ehrenwort. So wie's jeder Mann macht, dem die Frau abhaut.«
»Wir wollen uns auf den Bericht beschränken, ja?« zischte Guillam wütend.
Na also, sagte Tarr, er gebe zu, daß er vierundzwanzig Stunden lang den wilden Mann gespielt habe: »Und das passiert mir nicht oft, stimmt's, Mr. Guillam?«
»Oft genug.«
»Ich war ziemlich angeschlagen. Frustriert, könnte man sagen.« Die Überzeugung, daß man ihm mit brutaler Gewalt einen stolzen Preis vor der Nase weggeschnappt hatte, versetzte ihn in ziellosen Zorn, der sich in einer Sauftour durch alte Stammlokale austobte. Er ging ins Cat's Cradle, dann ins Angelika, und bis zum Morgengrauen hatte er ein halbes Dutzend weiterer Kneipen absolviert, ganz zu schweigen von ein paar Mädchen, die ihm dabei unterkamen. Einmal fuhr er ans andere Ende der Stadt und wirbelte in der Nachbarschaft des Alexandra ein bißchen Staub auf. Er hoffte, mit diesen Sicherheits-Gorillas ins Gespräch zu kommen. Als er wieder nüchtern wurde, fiel ihm Irina ein und ihr gemeinsames Abenteuer, und er beschloß, vor seinem Abflug nach London ihre toten Briefkästen aufzusuchen und nachzusehen, ob sie ihm zufällig noch hatte schreiben können, ehe man sie wegbrachte. Zum Teil einfach, damit er irgend etwas zu tun hatte. »Zum Teil habe ich wahrscheinlich den Gedanken nicht ertragen können, daß ein Brief von ihr irgendwo in einem Mauerloch herumliegt, während sie im Schwitzkasten sitzt«, gestand er, der verlorene Sohn, der immer wieder heimfand. Sie hatten zwei Verstecke, wo sie Briefe füreinander hinterlegten. Das erste war nicht weit vom Hotel auf einer Baustelle. »Haben Sie schon mal die Bambusgerüste gesehen, mit denen sie arbeiten? Phantastisch. Ich habe welche gesehen, die zwanzig Stockwerke hoch waren, und die Kulis krabbelten darüber mit Bauteilen aus Fertigbeton.« Ein unbenutztes Rohrstück, in Schulterhöhe. Wenn Irina in Eile gewesen war, so hatte sie höchstwahrscheinlich diesen Rohrpostkasten benutzt, aber als Tarr hinkam, war er leer. Der zweite war in der Kirche, »unten drin, wo sie die Traktate verwahren«, wie er sagte. »Der Stand war Teil einer ehemaligen Kleiderablage, wissen Sie. Wenn man im hintersten Kirchenstuhl kniet und herumtastet, findet man ein loses Brett. Dahinter ist ein Hohlraum voller Abfall und Rattendreck. Ich sage Ihnen, es gab ein reizendes Versteck ab, nicht zu überbieten.«
Eine kurze Pause trat ein, im Raum schwebte das Bild von Ricki Tarr und seiner Moskauer Liebsten, die Seite an Seite in der hintersten Bank einer Baptistenkirche in Hongkong knieten. In diesem toten Briefkasten, sagte Tarr, fand er keinen Brief, sondern ein ganzes verfluchtes Tagebuch. Die Handschrift war gut, und jedes Blatt zweiseitig beschrieben, so daß häufig die schwarze Tinte durchschlug. Es war in großer Eile geschrieben, ohne Verbesserungen. Er sah auf den ersten Blick, daß sie es in ihren lichten Momenten geführt hatte.
»Das ist natürlich nicht das Original. Das ist nur meine Kopie.« Seine lange Hand schlüpfte unter sein Hemd und brachte eine Ledertasche an einem breiten Riemen zum Vorschein. Er entnahm ihr ein schmuddeliges Päckchen Papier. »Ich nehme an, sie hat das Tagebuch hineingelegt, kurz bevor es sie erwischt hat«, sagte er. »Vielleicht hat sie bei dieser Gelegenheit noch ein letztes Gebet gesprochen. Ich habe die Übersetzung selbstgemacht.«
»Ich wußte nicht, daß Sie russisch sprechen«, sagte Smiley, nur für Tarr hörbar, der plötzlich grinste.
»Ah, heutzutage muß man in unserem Beruf auf Draht sein, Mr. Smiley«, erklärte er, während er die Seiten aufschlug. »Als Jurist bin ich vielleicht kein großes Licht, aber eine Fremdsprache kann entscheidend wichtig sein. Sie kennen vermutlich den berühmten Ausspruch: >Man ist sovielmal ein Mensch, wie man Sprachen spricht.< Stammt von einem großen Herrscher, Sir, von Karl dem Fünften. Mein Vater vergaß nie ein Zitat, das muß ich ihm lassen, und das Komische dabei ist, daß er außer Englisch kein Wort in einer anderen Sprache konnte. Ich lese Ihnen das Tagebuch vor, wenn es Ihnen recht ist.«
»Er versteht kein Wort Russisch«, sagte Guillam. »Sie haben die ganze Zeit englisch gesprochen. Irina hat einen dreijährigen Englischkurs absolviert.«
Guillam blickte zur Decke hoch, Lacon auf seine Hände. Nur Smiley behielt Tarr im Auge, der lautlos über seinen Scherz lachte.
»Sind wir so weit?« fragte er. »Also, dann fange ich an. >Thomas, hör mir zu, ich spreche mit dir.< Sie nannte mich bei meinem Nachnamen«, erklärte er. »Hab' ihr gesagt, ich hieße Tony, aber für sie war ich immer Thomas, ja? >Dieses Tagebuch ist mein Abschiedsgeschenk, falls sie mich fortschleppen, ehe ich mit Alleline sprechen kann. Ich möchte dir mein Leben schenken, Thomas, und natürlich meinen Körper, aber es sieht so aus, als würde dieses armselige Geheimnis alles sein, womit ich dich glücklich machen kann. Nutze es gut! < « Tarr blickte auf. »Das ist mit Montag datiert. Sie hat das Tagebuch während der vier Tage geführt.« Seine Stimme war ausdruckslos geworden, fast gelangweilt. »>In der Zentrale von Moskau geht mehr Klatsch um, als unseren Vorgesetzten lieb sein kann. Besonders die kleinen Würstchen machen sich gern wichtig und tun, als wüßten sie Bescheid. Zwei Jahre vor meiner Versetzung zum Handelsministerium habe ich nämlich in der Registratur unseres Hauptquartiers am Dzerzhinsky-Platz gearbeitet. Die Arbeit war furchtbar langweilig. Thomas, das Klima war unfreundlich, und ich war damals noch nicht verheiratet. Wir wurden angehalten, einander zu mißtrauen, es ist so zermürbend, nie unbefangen sprechen zu dürfen, niemals. Ich hatte einen Gehilfen namens Iwlow. Obwohl Iwlow mir weder gesellschaftlich noch im Dienstrang gleichgestellt war, brachte die bedrückende Atmosphäre eine Gleichgestimmtheit unserer Temperamente ans Licht. Verzeih mir, manchmal kann nur der Körper für uns sprechen, du hättest mir früher begegnen sollen, Thomas! Iwlow und ich machten mehrmals zusammen Nachtschicht, und schließlich kamen wir sogar überein, uns entgegen den Vorschriften außerhalb des Dienstgebäudes zu treffen. Er war blond, Thomas, wie du, und ich begehrte ihn. Wir trafen uns in einem Cafe in einem armen Stadtviertel von Moskau. In Rußland lehrt man, daß Moskau keine armen Stadtviertel besitzt, aber das ist eine Lüge. Iwlow erzählte mir, sein wirklicher Name sei Brod, aber er sei kein Jude. Er brachte mir Kaffee mit, den ihm ein Kamerad schwarz aus Teheran geschickt hatte, er war sehr süß, auch Strümpfe. Iwlow sagte, er bewundere mich sehr, und er habe einmal in einer Abteilung gearbeitet, wo über sämtliche von der Zentrale beschäftigten ausländischen Agenten bis ins kleinste Kartei geführt werde. Ich lachte und sagte, eine solche Kartei gebe es gar nicht, es sei ein Wunschtraum, anzunehmen, so viele Geheimnisse könnten an einer einzigen Stelle versteckt sein. Nun ja, wir waren wohl beide nur Träumer !<« Wieder unterbrach sich Tarr.