»Jetzt kommt der nächste Tag«, verkündete er. »Sie fängt an mit Gutenmorgengrüßen an Thomas, Gebeten und ein bißchen Liebesgeflüster. Eine Frau kann nicht an die Luft schreiben, sagt sie, also schreibt sie an Thomas. Ihr Alter ist früh weggegangen, und sie hat eine Stunde Zeit, Okay?« Smiley grunzte.
»>Beim zweiten privaten Zusammensein mit Iwlow traf ich ihn im Zimmer einer Cousine von Iwlows Frau, einer Lehrerin an der Staatsuniversität in Moskau. Wir waren allein. Bei diesem Zusammensein, das ganz verstohlen stattfand, kam es zu einem, wie wir es in einem Bericht nennen würden, inkriminierenden Akt. Ich glaube, Thomas, du selber hast auch schon einige Male einen solchen Akt begangen! Bei diesem Zusammensein erzählte Iwlow mir auch die folgende Geschichte, um uns noch fester aneinander zu binden. Thomas, du mußt dich in acht nehmen. Hast du schon einmal von Karla gehört? Er ist ein alter Fuchs, der listigste, der verschwiegenste in der Zentrale, sogar sein Name ist kein Name, den ein Russe versteht. Iwlow hatte schreckliche Angst, mir diese Geschichte zu erzählen, die angeblich mit einer großen Verschwörung zusammenhängt, vielleicht der größten überhaupt. Iwlows Geschichte lautete folgendermaßen. Du darfst sie nur absolut vertrauenswürdigen Personen erzählen, Thomas, weil sie äußerst konspiratorischer Natur ist. Du darfst sie keinem Menschen im Circus erzählen, denn man darf niemandem vertrauen, ehe das Rätsel gelöst ist. Iwlow sagte, es stimmte nicht, daß er eine Agentenkartei bearbeitet habe. Er habe diese Geschichte nur erfunden, um mir zu zeigen, wie gut er sich in der Zentrale auskenne und mir zu beweisen, daß ich mich nicht in einen Niemand verliebt habe. In Wahrheit hatte er in einer von Karlas großen Verschwörungen mitgewirkt und war als Karlas Helfer in England stationiert gewesen, als Chauffeur und Verschlüsselungsgehilfe bei der Botschaft getarnt. Für diese Aufgabe hatte er den Decknamen Lapin bekommen. Aus Brod war also Iwlow geworden und aus Iwlow Lapin: darauf war der arme Iwlow besonders stolz. Ich habe ihm nie gesagt, was lapin im Französischen bedeutet. Daß man den Wert eines Menschen nach der Zahl seiner Namen bemißt! Iwlows Aufgabe war, bei einem Maulwurf zu dienen. Ein Maulwurf ist ein Tiefen-Agent, und wird so genannt, weil er sich tief in das System des westlichen Imperialismus vorwühlt, in diesem Fall war es ein Engländer.
Maulwürfe sind für die Zentrale sehr wertvoll, denn es dauert viele Jahre, bis man sie ansetzen kann, oft fünfzehn oder zwanzig. Die meisten englischen Maulwürfe wurden vor dem Krieg von Karla angeworben und waren aus dem gehobenen Bürgertum, sogar Aristokraten und Adelige, die ihre Herkunft verabscheuten und zu heimlichen Fanatikern wurden, weitaus fanatischer als ihre Kameraden aus der englischen Arbeiterklasse, die eher trag sind. Einige bewarben sich um Aufnahme in die Partei, als Karla sie abfing und mit einer Spezialaufgabe betraute. Andere kämpften in Spanien gegen den Franco-Faschismus, wo Karlas Talentsucher sie aufstöberten und sie zur Anwerbung an Karla weiterreichten. Manche wurden während des Krieges angeworben, als Rußland mit den Briten ein Zweckbündnis hatte eingehen müssen, manche danach, als sie enttäuscht waren, weil der Krieg dem Westen keinen Sozialismus gebracht hatte. < Hier bricht sie ab«, verkündete Tarr, ohne von seinem Manuskript aufzublicken. »Ich habe vermerkt: >bricht ab<. Wahrscheinlich ist ihr Alter früher als erwartet zurückgekommen. Die Tinte ist ganz verwischt. Gott weiß, wo sie das verdammte Ding versteckt hat. Vielleicht unter der Matratze.« Falls dies ein Scherz sein sollte, so mißlang er. »>Der Maulwurf, für den Lapin in London arbeitete, wurde unter dem Decknamen Gerald geführt. Er war von Karla angeworben worden und war Gegenstand strengster Geheimhaltung. Hilfsdienste bei Maulwürfen werden nur von Genossen mit erstklassiger Befähigung versehen, sagt Iwlow. Iwlow-Lapin war an der Botschaft scheinbar eine bloße Null und mußte sich auf Grund dieser untergeordneten Stellung viele Demütigungen gefallen lassen, zum Beispiel bei festlichen Anlässen mit Frauen hinter der Bar stehen, in Wahrheit hingegen war er ein wichtiger Mann, der geheime Adjutant von Oberst Gregor Viktorow, dessen Arbeitsname bei der Botschaft Poljakow lautet.<« Hier meldete Smiley sich ein einziges Mal zu Wort; er ließ sich den Namen buchstabieren. Wie ein Schauspieler, der mitten im schönsten Monolog unterbrochen wird, antwortete Tarr ungnädig: »P-O-L-J-A-K-O-W. Haben Sie's jetzt verstanden?«
»Ja, vielen Dank«, sagte Smiley mit unerschütterlicher Höflichkeit und in einem Ton, der eindeutig besagte, daß der Name für ihn keinerlei Bedeutung habe. Tarr fuhr fort:
»>Viktorow ist selber ein alter Hase und mit allen Wassern gewaschen, sagte Iwlow. Seine Tarnung ist Kulturattache, und in dieser Eigenschaft verständigt er sich mit Karla. Als Professor Poljakow organisiert er an britischen Universitäten und bei Gesellschaften Vorlesungen über kulturelle Probleme der Sowjetunion, aber nachts arbeitet er als Oberst Gregor Viktorow. Nach Anweisung Karlas aus der Zentrale instruiert er den Maulwurf Gerald und holt dessen Informationen ein. Zu diesem Zweck setzt Oberst Viktorow Kuriere ein, und der arme Iwlow war eine Zeitlang einer von ihnen. Aber nach wie vor wird der Maulwurf Gerald von Karla in Moskau unmittelbar kontrolliert.< Jetzt ändert es sich völlig«, sagte Tarr. »Sie schreibt nachts und ist entweder blau oder halbtot vor Angst - ein einziges Gefasel die ganze Seite über. Über Schritte auf dem Korridor und Seitenblicke, die die Gorillas ihr zuwerfen. Nicht übernommen, o. k., Mr. Smiley?« Und auf ein sparsames Nicken hin fuhr er fort: »>Die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz des Maulwurfs waren bemerkenswert. Schriftliche Berichte aus London an Karla wurden, auch wenn sie verschlüsselt waren, auseinandergeschnitten und durch getrennte Kuriere geschickt, andere waren unter der üblichen Botschaftskorrespondenz, nur mit Geheimtinte verfaßt. Iwlow erzählte mir, der Maulwurf Gerald habe zeitweise mehr Material geliefert, als Viktorow-Poljakow beim besten Willen bewältigen konnte. Vieles war auf unentwickelten Filmen, oft dreißig Rollen in einer Woche. Wenn der Behälter nicht auf eine bestimmte Art geöffnet wurde, war der Film verdorben. Anderes Material wurde vom Maulwurf bei streng geheimen Zusammenkünften mündlich geliefert und auf Spezialband aufgenommen, das nur über einen raffiniert konstruierten Apparat abgespielt werden konnte. Auch dieses Band wurde gelöscht, wenn man es dem Licht aussetzte oder auf einem falschen Gerät abzuspielen versuchte. Die Zusammenkünfte wurden von Fall zu Fall verabredet, immer anders, immer plötzlich, mehr weiß ich nicht, außer daß es sich um die Zeit handelte, als die faschistische Aggression in Vietnam ihren Höhepunkt erreicht hatte; in England hatten die reaktionären Kräfte wieder die Macht an sich gerissen. Auch daß, laut Iwlow-Lapin, der Maulwurf Gerald einen hohen Rang im Circus bekleidete. Thomas, ich sage dir dies alles, weil ich, seit ich dich liebe, alles Englische bewundere, dich am meisten. Ich mag nicht glauben, daß ein englischer Gentleman ein Verräter sein soll, obwohl ich es natürlich richtig finde, daß er sich für die Sache der Arbeiterklasse einsetzt. Auch fürchte ich für die Sicherheit eines jeden, der für den Circus arbeitet. Thomas, ich liebe dich, geh vorsichtig um mit diesem Wissen, es könnte auch dir schaden. Iwlow war ein Mann wie du, auch wenn sie ihn Lapin nannten . . .<« Tarr zögerte verschämt. »Am Ende kommt eine Stelle, wo ...«