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»Lesen Sie«, brummte Guillam.

Tarr hob den Papierpacken leicht schräg an und las in der gleichen schleppenden Tonart weiter:

»>Thomas, ich sage dir alles auch deshalb, weil ich Angst habe. Als ich heute morgen aufwachte, saß er auf dem Bett und starrte mich an wie ein Irrer. Als ich zum Kaffee hinunterging, belauerten mich die Wächter Trepow und Nowikow wie Tiere, ihr Frühstück rührten sie kaum an. Sie waren bestimmt schon seit Stunden da, auch Awilow, ein Junge von der Außenstelle, saß bei ihnen. Hast du geplaudert, Thomas? Hast du ihnen mehr erzählt, als ich ahnen konnte? Jetzt begreifst du wohl, warum nur Alleline in Frage kommt. Mach dir keine Vorwürfe, ich kann er­raten, was du ihnen erzählt hast. Im Herzen bin ich frei. Du hast nur meine schlechten Seiten zu sehen bekommen. Das Trinken, die Angst, die Lüge, in der wir leben. Aber tief in meinem Innern brennt ein neues und seliges Licht. Ich glaubte immer, die Ge­heimwelt sei ein hermetisch abgeschlossener Ort und ich sei für immer auf eine Insel von Halbmenschen verbannt. Aber Thomas, sie ist nicht abgeschlossen. Gott hat mir gezeigt, daß sie hier ist, inmitten der wirklichen Welt, in unserer Reichweite, und daß wir nur die Türen öffnen und hinaustreten müssen, um frei zu sein. Thomas, du mußt immer nach diesem Licht streben, das ich gefunden habe. Man nennt es Liebe. Jetzt werde ich dieses Buch zu unserem Versteck bringen und dort lassen, solange noch Zeit ist. Lieber Gott, ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Gott gewähre mir eine Freistatt in seiner Kirche. Erinnere dich: auch dort habe ich dich geliebt.<« Tarr war leichenblaß, und seine Hände, die das Hemd aufknöpften, um das Tagebuch wieder in die Ledertasche zu stecken, waren zittrig und feucht. »Es kommt noch ein Nach­satz«, sagte er. »Er lautet: >Thomas, warum weißt du nur noch so wenige Gebete aus deiner Kindheit? Dein Vater war ein großer und guter Mensch.< Wie ich schon sagte«, erläuterte er, »sie war verrückt.«

Lacon hatte die Läden geöffnet, und jetzt strömte das weiße Ta­geslicht voll in den Raum. Die Fenster gingen auf eine kleine Koppel hinaus, wo Jackie Lacon, ein fettes kleines Mädchen mit Zöpfen und Reitkappe, behutsam ihr Pony im Kanter laufen ließ.

Außerplanmäßige Flüge mit Landung in Ost und West

Ehe Tarr wegging, stellte Smiley ihm einige Fragen. Er blickte dabei nicht Tarr an, sondern stellte die kurzsichtigen Augen auf mittlere Distanz ein. Die Tragödie hatte einen trostlosen Ausdruck auf dem feisten Gesicht hinterlassen. »Wo ist das Original dieses Tagebuchs?«

»Ich habe es sofort wieder in den toten Briefkasten gelegt. Sie müssen es sich so vorstellen, Mr. Smiley: Als ich das Tagebuch fand, war Irina schon vierundzwanzig Stunden in Moskau. Meiner Vermutung nach würde sie nicht mehr viel Puste haben, wenn das Verhör losging. Höchstwahrscheinlich war sie schon im Flugzeug gründlich präpariert worden, dann folgte eine zweite Runde bei der Landung, dann Frage Eins, sobald die Obermacher mit dem Frühstück fertig waren. So machen sie's bei den Schüchternen: erst die Daumenschrauben und dann die Fragen, stimmt's? Es könnte daher nur einen, höchstens zwei Tage dauern, bis die Zentrale einen Strauchdieb losschicken würde, der sich ein bißchen dort hinten in der Kirche umsehen sollte, okay?« Und dann wieder affektiert: »Außerdem mußte ich auf mein ei­genes Wohlergehen bedacht sein.«

»Er will sagen, daß die Moskauer Zentrale weniger daran inter­essiert sein würde, ihm die Kehle durchzuschneiden, wenn sie glaubten, er hätte das Tagebuch nicht gelesen«, sagte Guillam. »Haben Sie es fotografiert?«

»Ich trage keine Kamera. Ich habe mir ein dickes Schreibheft ge­kauft. In dieses Heft habe ich das Tagebuch abgeschrieben. Das Original habe ich wieder in sein Versteck gelegt. Die ganze Ar­beit hat rund vier Stunden gedauert.« Er schaute Guillam an, dann von ihm weg. Das frische Tageslicht enthüllte plötzlich tiefverborgene Furcht auf Tarrs Gesicht. »Als ich ns Hotel zu­rückkam, war mein Zimmer völlig verwüstet: sie hatten sogar die Tapeten von den Wänden gerissen. Der Direktor schrie mich an, ich solle mich zum Teufel scheren. Er wollte von nichts gewußt haben.«

»Er hat eine Kanone bei sich«, sagte Guillam. »Er wird sie nicht mit hinausnehmen.«

»Da haben Sie verdammt recht, das werd' ich nicht.« Aus Smileys Magengegend kam ein mitfühlendes Grunzen: »Diese Zusammenkünfte, die Sie mit Irina hatten: die toten Briefkästen, die Warnsignale und Ausweichtreffpunkte. Wer hat diese fach­männischen Vorschläge gemacht: die Frau oder Sie?«

»Irina.«

»Worin bestanden die Warnsignale?«

»Körpersprache. Wenn ich den Kragen offen trug, wußte sie, daß ich die Umgebung abgesucht hatte und vermutete, daß die Luft rein sei. Wenn ich ihn geschlossen trug, Treffen abgeblasen bis zum Ausweichtermin.«

»Und Irina?«

»Handtasche. Linke Hand, rechte Hand. Ich kam als erster und wartete irgendwo, wo sie mich sehen konnte. Sie hatte die Wahclass="underline" Bleiben oder Abhauen.«

»Das Ganze ereignete sich vor einem halben Jahr. Was haben Sie inzwischen gemacht?«

»Geschlafen«, sagte Tarr grob.

Guillam sagte: »Er hat durchgedreht und sich nach Kuala Lumpur in eines der Bergdörfer verzogen. Sagt er jedenfalls. Er hat eine Tochter namens Danny.«

»Danny ist meine Kleine.«

»Er hat bei Danny und ihrer Mutter sein Lager aufgeschlagen«, sagte Guillam. Wie immer redete er Tarr ganz einfach dazwischen. »Er hat seine Weiber über den ganzen Globus verstreut, aber im Moment scheint sie die Lieblingsfrau zu sein.«

»Warum sind Sie ausgerechnet jetzt zurückgekommen?« Tarr sagte nichts.

»Hätten Sie nicht gern Weihnachten mit Danny verbracht?«

»Schon.«

»Also, was ist passiert? Hat Ihnen etwas einen Schreck einge­jagt?«

»Es sind Gerüchte umgegangen«, sagte Tarr mürrisch. »Welche Art von Gerüchten?«

»So ein Franzose ist in KL aufgetaucht und hat herumerzählt, ich schuldete ihm Geld. Wollte mir einen Anwalt auf den Hals hetzen. Ich schulde niemandem Geld.«

Smiley wandte sich wieder an Guillam: »Im Circus wird er noch immer als Überläufer geführt?«

»Als mutmaßlicher.«

»Was haben Sie bisher unternommen?«

»Ich bin nicht zuständig. Ich habe auf Umwegen erfahren, daß London Station vor einer Weile mehrmals Kriegsrat über ihn ge­halten hat, aber ich war nicht eingeladen und weiß also nicht, was dabei herauskam. Ich vermute, gar nichts, wie üblich.«

»Welchen Paß hat er benutzt?«

Tarr hatte die Antwort bereit: »Thomas habe ich abgeworfen, sobald ich in Malaya ankam. Wie ich annahm, war Thomas zur Zeit in Moskau nicht gerade Liebkind, und so machte ich ihm besser an Ort und Stelle den Garaus. In KL ließ ich mir einen Commonwealth- und britischen Paß anfertigen.« Er gab ihn Smiley. »Auf den Namen Poole. Nicht schlecht für den Preis.«

»Warum benutzten Sie nicht einen Ihrer Schweizer Pässe?« Wieder eine argwöhnische Pause.

»Oder kamen die Pässe bei der Durchsuchung Ihres Hotelzimmers abhanden?«