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»Sie sagten, es sei Amtsanmaßung«, sagte Smiley betrübt, wie in Erinnerung an den gleichen Trauerfall.

»Habe ich diesen Ausdruck gebraucht? Großer Gott, wie schwül­stig!«

Vom Haus her hörte man Jackie noch immer schreien.

»Sie hatten nie welche, wie?« quäkte Lacon plötzlich und hob lauschend den Kopf.

»Wie bitte?«

»Kinder. Sie und Ann.«

»Nein.«

»Neffen, Nichten?«

»Einen Neffen.«

»Ihr eigener?«

»Anns Neffe.«

Vielleicht bin ich nie von hier weggegangen, dachte er und blickte um sich, auf die wuchernden Rosen, die zerbrochenen Schaukeln und morastigen Sandgruben, das ungepflegte rote Haus, das im Morgenlicht so roh wirkte. Vielleicht sind wir noch vom letzten Mal da. Lacon rechtfertigte sich aufs neue: »Ich gebe zu, daß ich Ihren Motiven nicht hundertprozentig traute. Es ging mir durch den Kopf, daß Control Sie darauf angesetzt haben könnte, wissen Sie. Um sich an der Macht zu halten und Alleline nicht zum Zug kommen zu lassen«, und wieder rannte er los, mit langen Schritten, abgewinkelten Handgelenken.

»O nein, ich garantiere Ihnen, daß Control überhaupt nichts davon wußte.«

»Das ist mir jetzt klar. Damals nicht. Es ist nicht ganz einfach zu entscheiden, wann man euch trauen darf und wann nicht. Sie haben ganz andere Maßstäbe, nicht wahr? Ich meine, notwendi­gerweise. Ich akzeptiere sie. Ich will hier nicht richten. Schließlich haben wir alle das gleiche Ziel, wenn auch unsere Methoden verschieden sind« - er setzte über einen Viehgraben. »Einmal hörte ich jemanden sagen, Moral ist Methode. Sind Sie auch dieser Meinung? Wahrscheinlich nicht. Sie würden vermutlich sagen, die Moral sei durch das Ziel definiert. Nur, daß es schwer zu sagen ist, welche Ziele man wirklich hat, besonders wenn man Brite ist. Wir können von euch Leutchen nicht erwarten, daß ihr die Politik für uns festsetzt, wie? Wir können euch nur bitten, sie zu schützen. Habe ich recht? Knifflige Sache das.« Smiley, der keine Lust mehr hatte, hinter ihm herzujagen, setzte sich auf eine rostige Schaukel, wickelte den Mantel enger um sich und wartete, bis Lacon endlich zurückstelzte und sich neben ihm niederließ. Eine Weile schaukelten sie gemeinsam sanft im Rhyth­mus der ächzenden Federn.

»Wie zum Teufel ist sie auf Tarr verfallen«, brummte Lacon schließlich und ließ die langen Finger knacken. »Von allen Men­schen auf der Welt ausgerechnet den als Beichtvater zu wählen, der so ziemlich der unpassendste sein dürfte.«

»Ich fürchte, diese Frage werden Sie einer Frau stellen müssen,

nicht uns«, sagte Smiley und fragte sich wieder einmal, wo Immingham sein mochte.

»Wahrhaftig«, sagte Lacon mit übertriebener Betonung, »ein voll­ständiges Rätsel, das Ganze. Um elf Uhr bin ich beim Minister. Ich muß ihn ins Bild setzen. Ihren Parlamentsvetter«, fügte er als gezwungenen vertraulichen Scherz hinzu.

»Eigentlich Anns Vetter«, berichtigte ihn Smiley im gleichen ab­wesenden Tonfall. »Um etliche Ecken, sollte ich hinzufügen, aber trotz allem ein Vetter.«

»Und Bill Haydon ist auch Anns Vetter? Unser vornehmer Di­rektor von London Station.« Ach dies hatten sie schon einmal durchgespielt.

»Auf andere Weise, ja, ist Bill auch ihr Vetter.« Ziemlich über­flüssig fügte er hinzu: »Sie kommt aus einer alten Familie mit einer starken politischen Tradition. Im Laufe der Zeit hat sie sich ziemlich ausgebreitet.«

»Die Tradition?« Lacon liebte es, auf Doppeldeutigkeiten hin­zuweisen. »Die Familie.«

Hinter diesen Bäumen, dachte er, fahren Autos vorbei. Hinter diesen Bäumen liegt eine ganze Welt, aber Lacon hat seine rote Burg und sein christliches Pflichtgefühl, das ihm keinen anderen Lohn verspricht als einen Adelstitel, die Achtung seiner Peers, eine fette Pension und ein paar Aufsichtsratspöstchen in der City. »Auf jeden Fall sehe ich ihn um elf.« Lacon war aufgesprungen, und nun marschierten sie wieder. Smiley fing den Namen Ellis auf, den die herbstliche Morgenluft zu ihm zurückwehte. Einen Augenblick überkam ihn, genau wie neben Guillam im Auto, eine seltsame Nervosität.

»Schließlich«, sagte Lacon gerade, »haben wir beide nur unsere Pflicht getan. Sie glaubten, Ellis sei ein Verräter, und Sie verlangten eine Hexenjagd. Mein Minister und ich glaubten, es handele sich um schlimmste Unfähigkeit von Control - eine Ansicht, die, um es milde auszudrücken, das Foreign Office teilte -, und wir verlangten einen neuen Besen.«

»Oh, ich verstehe Ihr Dilemma sehr gut«, sagte Smiley mehr zu sich selber als zu Lacon.

»Freut mich. Und vergessen Sie nicht, George: Sie waren Con­trols Mann. Control hat Sie Haydon vorgezogen, und als er ge­gen Ende die Dinge nicht mehr im Griff hatte - und dieses ganze ungeheure Abenteuer begann -, haben Sie sich für ihn exponiert. Nur Sie, George. Es passiert nicht alle Tage, daß der Leiter eines Geheimdienstes einen Privatkrieg gegen die Tschechen beginnt.« Es war klar, daß die Erinnerung immer noch schmerzte. »Unter anderen Gegebenheiten hätte wahrscheinlich Haydon dran glauben müssen, aber Sie saßen schon auf dem Schleudersitz, und . . .«

»Und Alleline war der Mann des Ministers«, sagte Smiley so milde, daß Lacon seine Gangart zügelte und ihm zuhörte. »Sie hatten ja keinen Verdächtigen, nicht wahr? Sie wiesen nicht mit dem Finger auf einen bestimmten Mann. Eine ziellose Un­tersuchung kann außerordentlich viel Schaden anrichten.«

»Ein neuer Besen hingegen kehrt besser.«

»Percy Alleline macht seine Sache sehr gut. Er sorgt für Nach­richten statt für Skandale; er hält sich genau an die Abmachungen und hat das Vertrauen der Klienten gewonnen. Und soviel ich weiß, ist er noch nicht in tschechoslowakisches Gebiet einge­drungen.«

Sie waren zu einem leeren Schwimmbassin gelangt und starrten auf den Grund. Aus den schlammigen Tiefen vermeinte Smiley wieder Roddy Martindales hinterhältige Stimme zu hören: »Kleine Leseräume in der Admiralität, kleine Ausschüsse mit komischen Namen wachsen aus dem Boden . . .«

»Sprudelt Percys Spezialquelle noch immer?« erkundigte sich Smiley. »Das Witchcraft-Material oder wie man das heutzutage nennt.«

»Ich wußte nicht, daß Sie eingeweiht sind«, sagte Lacon keines­wegs erfreut. »Da Sie danach fragen, ja. Quelle Merlin ist unser wichtigster Anhaltspunkt, und Witchcraft ist immer noch der Name des Produkts. Der Circus hat seit Jahren kein so gutes Material vorgelegt. Überhaupt nie, soweit ich mich erinnern kann.«

»Und es unterliegt noch immer diesen besonderen Sicherheits­bestimmungen ?«

»Gewiß, und nachdem das jetzt passiert ist, werden wir bestimmt noch weit strengere Vorsichtsmaßnahmen treffen.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun. Gerald könnte den Bra­ten riechen.«

»Das ist der Haken, nicht wahr?« bemerkte Lacon rasch. Seine Zähigkeit war unglaublich, dachte Smiley. Im einen Augenblick war er ein dürrer, ausgepumpter Boxer, dem die Handschuhe zu groß waren für die mageren Gelenke; im nächsten hatte er ausge­holt, einen in die Seile geschickt und beobachtete sodann sein Opfer mit christlichem Mitgefühl. »Wir können nichts tun. Wir können keine Nachforschungen anstellen, weil das gesamte In­strumentarium für eine solche Untersuchung in den Händen des Circus liegt, vielleicht sogar beim Maulwurf Gerald persönlich. Wir können nicht beschatten oder abhören oder Post öffnen. Wir würden in jedem solchen Fall auf Esterhases Aufklärer zu­rückgreifen müssen, und Esterhase muß wie jeder andere auch suspekt sein. Wir können keine Verhöre anstellen, wir können nicht dafür sorgen, daß bestimmten Personen der Zugang zu heik­len Geheimnissen verwehrt wird. Wenn wir etwas Derartiges unternähmen, würden wir riskieren, den Maulwurf stutzig zu machen. Es ist die älteste Frage der Welt, George. Wer kann den Spion ausspionieren? Wer kann den Fuchs hetzen, ohne mit ihm zu rennen?« Er machte einen weiteren mißglückten Versuch, Humor zu beweisen: »Höchstens der Maulwurf«, sagte er im Ver­schwörerton.