»Für das Nichttun gibt es immer ein Dutzend Gründe«, sagte Ann mit Vorliebe - es war tatsächlich eine treffliche Rechtfertigung vieler ihrer Seitensprünge. »Für das Tun gibt es nur einen Grund. Nämlich, daß man es will.« Oder muß? Ann würde das leidenschaftlich verwerfen: Zwang, würde sie sagen, ist nur ein anderes Wort für »tun, was man will«; oder für »nicht tun, wovor man sich fürchtet«.
Mittlere Kinder weinen länger als ihre Geschwister. Jackie Lacon lag an der Schulter ihrer Mutter, um ihren Schmerz und den verletzten Stolz zu beschwichtigen, und beobachtete den Aufbruch der Gäste. Zuerst zwei Männer, die sie noch nie gesehen hatte, der eine groß und schlank, der andere kurz und dunkel. Sie fuhren in einem kleinen grünen Lieferwagen weg. Niemand winkte ihnen nach, wie sie feststellte, oder sagte auch nur auf Wiedersehen. Dann fuhr ihr Vater in seinem Wagen weg und schließlich gingen ein schöner blonder Mann und ein kleiner fetter in einem viel zu großen Mantel zu einem Sportwagen, der unter den Birken geparkt war. Zuerst glaubte sie, mit dem Fetten müsse etwas nicht stimmen, er folgte dem anderen so langsam und mühselig. Aber als er sah, daß der schöne Mann ihm die Wagentür hielt, schien er aufzuwachen und fiel in einen schwerfälligen Trab. Aus unerfindlichen Gründen regte diese Szene sie von neuem auf. Eine Woge von Kummer erfaßte sie, und ihre Mutter konnte sie nicht trösten.
Peter Guillam folgt den Spuren eines »Maulwurfs« und findet die Jagd nicht ungefährlich
Peter Guillam war ein ritterlicher Mann, dessen bewußte Loyalität durch seine Gefühle der Zuneigung bestimmt wurde. Seine angeborene Loyalität gehörte seit vielen Jahren dem Circus. Sein Vater, ein französischer Geschäftsmann, hatte während des Krieges für Haydons reseau spioniert, während die Mutter, gebürtige Engländerin, geheimnisvollen Beschäftigungen mit Chiffren nachging. Guillam selber hatte bis vor acht Jahren, als Angestellter eines Transportunternehmens getarnt, seine eigenen Agenten in Französisch Nordafrika gehabt, ein ausgesprochenes Himmelfahrtskommando. Sein Netz flog auf, seine Agenten wurden gehenkt, und für ihn begannen die langen Jahre des gestrandeten Profis mittleren Alters. Er verrichtete in London Gelegenheitsarbeiten, manchmal für Smiley, leitete ein paar Inlandseinsätze, dirigierte ein Netz von Freundinnen, die, wie es im Fachjargon hieß, nicht rundgeschaltet waren, und als Allelines Clique ans Ruder kam, wurde er nach Brixton abgeschoben, vermutlich, weil er die falschen Beziehungen hatte, unter anderem Smiley. So hätte er bis vergangenen Freitag ganz entschieden seine Lebensgeschichte dargestellt. Seine Verbindung zu Smiley hätte er sich größtenteils für den Schluß aufgehoben. Guillam wohnte damals vorwiegend in den Londoner Docks, wo er unter den vereinzelten polnischen und russischen Matrosen, die er und einige Talentsucher aufgetan hatten, ein untergeordnetes Marinenetz zusammenstellte. Zwischendurch saß er immer wieder in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoß des Circus, tröstete ein hübsche Sekretärin namens Mary und war ganz zufrieden, abgesehen davon, daß keiner, der etwas zu sagen hatte, jemals seine Aktennotizen beantwortete. Wenn er das Telefon benutzte, war entweder besetzt, oder es meldete sich niemand. Er hatte gerüchtweise etwas von Schwierigkeiten gehört, aber es gab dauernd Schwierigkeiten. So war zum Beispiel allgemein bekannt, daß Alleline und Control einander in der Wolle hatten, aber darin bestand schon seit Jahren ihre Hauptbeschäftigung. Er wußte ferner, genau wie alle anderen, daß eine großangelegte Sache in der Tschechoslowakei geplatzt war und daß Jim Prideaux, der Chef der Skalpjäger, der älteste Tschechen-Spezialist und Bill Haydons lebenslanger Gefährte, angeschossen und erwischt worden war. Daher vermutlich das unüberhörbare Schweigen und die düsteren Mienen. Daher auch Bill Haydons rasender Zorn, der durchs ganze Haus seine Wellen schlug; wie Gottes Zorn, sagte Mary, der ausgewachsene Leidenschaften imponierten. Später hörte er die Katastrophe als »Operation Testify« bezeichnen. Testify, so sagte Haydon ihm später, sei die stümperhafteste Operation gewesen, die jemals ein alter Mann um seines welkenden Ruhmes willen angezettelt habe, und Jim Prideaux sei der Preis dafür.
Einiges darüber war in die Zeitungen gelangt, es gab Anfragen im Parlament und sogar Gerüchte - die offiziell nicht bestätigt wurden -, daß britische Truppen in Deutschland in höchster Alarmbereitschaft seien.
Schließlich, nachdem er sich lange genug in allen möglichen Büros herumgetrieben hatte, ging ihm auf, was allen anderen schon vor sechs Wochen aufgegangen war. Der Circus schwieg nicht nur, er war eingefroren. Nichts kam herein, nichts ging hinaus; jedenfalls nicht auf der Ebene, auf der Guillam sich bewegte. Alle Mächtigen des Hauses waren wie vom Erdboden verschluckt, und als der Zahltag kam, steckten keine dicken Kuverts in den Fächern, weil, laut Mary, die Personalabteilung nicht die übliche allmonatliche Anweisung erhalten habe, sie auszugeben. Dann und wann berichtete jemand, er habe Alleline beim Verlassen seines Clubs gesehen, ausgesprochen verbiestert. Oder Control beim Einsteigen in seinen Wagen, ausgeprochen sonnig. Oder daß Bill Haydon seine Entlassung eingereicht habe, mit der Begründung, daß er übergangen oder unterlaufen worden sei, aber Bill reichte ständig seine Entlassung ein. Dieses Mal jedoch, wie das Gerücht wissen wollte, aus andersgearteten Gründen: Haydon sei wütend darüber, daß der Circus sich weigere, den Tschechen den Preis für Jim Prideaux' Freilassung zu zahlen; sie verlangten angeblich zu viel an Agenten oder an Prestige. Und daß Bill einen seiner Ausbrüche von Chauvinismus gehabt und erklärt habe, jeder Preis sei angemessen, wenn man dafür einen Engländer zurückbekomme: gebt ihnen alles, was sie wollen, aber holt Jim zurück.
Dann erschien eines Abends Smiley unter Guillams Tür und lud ihn zu einem Drink ein. Mary wußte nicht, wer er war, und sagte nur in ihrem einstudiert klassenlosen Tonfall «Hallo«. Als sie Seite an Seite den Circus verließen, wünschte Smiley den Kontrollbeamten ungewöhnlich knapp gute Nacht, und in der Kneipe an der Wardour Street sagte er: »Sie haben mich geschaßt«, und das war alles.
Vom Pub gingen sie in ein Weinlokal in der Nähe von Charing Cross, einem Keller mit Musik und ohne Gäste. »Haben sie irgendeinen vernünftigen Grund angegeben?« erkundigte sich Guillam. »Oder ist es nur, weil Ihre Figur gelitten hat?« Smiley hakte bei dem Wort »vernünftig« ein. Er war inzwischen ehrenhaft, aber gründlich betrunken, doch »vernünftige Gründe« drangen, während sie am Themseufer entlangschwankten, zu ihm durch.
»Vernünftig als logisch?« fragte er, und es klang weniger nach Smiley als nach Bill Haydon, dessen polemischer Stil aus der Vorkriegszeit in diesen Tagen jedermann in den Ohren zu klingen schien. »Oder vernünftig als begründet? Vernunft als Lebensform?« Sie setzten sich auf eine Bank. »Ich pfeife auf ihre vernünftigen Gründe<. Ich habe meine eigenen. Und zwar ganz andere«, räsonierte er hartnäckig weiter, während Guillam ihn sorgsam in ein Taxi verlud und dem Chauffeur Geld und Adresse gab, »ganz andere, als diese halbgare Toleranz, die nur der Interesselosigkeit entspringt.«
»Amen«, sagte Guillam, der dem entschwindenden Taxi nachschaute und in diesem Augenblick klar erkannte, daß nach den Regeln des Circus ihre Freundschaft, so wie sie bisher gewesen war, hier und jetzt endete. Am nächsten Tag erfuhr Guillam, daß noch mehr Köpfe gerollt waren und daß Percy Alleline als Nachtwächter mit dem Titel eines amtierenden Chefs zunächst den Laden übernehmen sollte, und daß Bill Haydon zu jedermanns Erstaunen, aber höchst wahrscheinlich aus nagendem Zorn auf Control, unter ihm arbeiten wolle; oder, wie die ganz Gescheiten sagten, über ihm. Weihnachten war Control tot. »Du wirst der nächste sein«, sagte Mary, die in diesen Ereignissen eine zweite Erstürmung des Winterpalastes sah, und sie weinte, als Guillam in die sibirische Verbannung nach Brixton zog, ironischerweise, um Jim Prideaux' Planstelle auszufüllen. Als Guillam nun an jenem feuchten Montagnachmittag, beschwingt von der Aussicht auf Treuebruch, die Stufen zum Circus hinaufstieg, ließ er sich alle diese Ereignisse nochmals durch den Kopf gehen und kam zu dem Schluß, daß heute sein Weg zurück begann.