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»Noch einen Wunsch, Mr. Smiley?« fragte der Kellner. »Oder Bland: der letzte Strohhalm der Nation, der Akademiker aus der Proleten-Presse.« Noch immer wollte er nicht locker­lassen. »Und wenn diese beiden nicht den Laden schmeißen, dann ist es jemand im Ruhestand, wie? Ich meine, jemand, der angeb­lich im Ruhestand ist, ja? Und wenn Control tot ist, wer bleibt dann noch übrig? Außer Ihnen?«

Sie zogen ihre Mäntel an. Der Garderobier war schon heimge­gangen, sie mußten sich selber von den braunen Ständern bedie­nen.

»Roy Bland ist nicht aus der Proleten-Presse«, sagte Smiley laut. »Er war am St. Anthony's College in Oxford, wenn Sie's genau wissen wollen.«

Gott sei mir gnädig, etwas Besseres ist mir nicht eingefallen, dachte Smiley.

»Seien Sie doch nicht albern, mein Lieber«, fuhr Martindale ihn an. Smiley hatte ihn gelangweilt, er schaute mürrisch drein und wie jemand, den man übers Ohr gehauen hatte, traurige senkrechte Falten hatten sich in der unteren Wangenpartie gebildet. »Natür­lich ist St. Anthony's eine Proleten-Presse. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in der gleichen Straße eine Elite ausgebildet wird. Oder daß Bland Ihr Protege war. Jetzt ist er vermutlich Bill Haydons Protege - geben Sie ihm kein Trinkgeld, ich habe eingeladen, nicht Sie. Bill ist ihnen allen ein Vater, immer ge­wesen. Zieht sie an wie Bienen. Nun ja, er hat eben etwas Strahlen­des, das, was manchen von uns fehlt. Star-Qualität nenne ich es, einer der wenigen. Es heißt, die Frauen liegen ihm buchstäblich zu Füßen, und das ist noch das wenigste.«

»Gute Nacht, Roddy.«

»Vergessen Sie nicht, Ann zu grüßen.«

»Bestimmt nicht.«

»Ich will's hoffen.«

Und jetzt goß es in Strömen. Smiley wurde naß bis auf die Haut, und Gott hatte zur Strafe sämtliche Taxis vom Antlitz Londons getilgt.

George Smiley kommt vom Regen in die Traufe

»Purer Mangel an Willenskraft«, schalt er sich und lehnte das Anerbieten einer Dame unter der Tür dankend ab. »Man nennt es Höflichkeit, aber in Wahrheit ist es nur Schwäche. Martindale, du Strohkopf. Du aufgeblasener, falscher, weibischer, nichts­nutziger . . .« Mit einem weiten Schritt setzte er über ein vermu­tetes Hindernis hinweg. »Schwäche«, wiederholte er, »und die Unfähigkeit, ein erfülltes Leben unabhängig von Institutionen zu führen . . .«, eine Pfütze entleerte sich säuberlich in seinen Schuh, »und emotionale Bindungen, die ihren Sinn längst überlebt haben. Als da sind meine Frau, der Circus, mein Leben in London. Taxi!«

Smiley stürzte vor, aber zu spät. Zwei Mädchen, die unter einem gemeinsamen Regenschirm kicherten, stiegen von der Fahrbahn­seite ein. Er schlug völlig sinnlos den Mantelkragen hoch und setzte seinen einsamen Marsch fort. »Letzter Strohhalm der Na­tion«, brummte er wütend. »Proleten-Presse. Du schwülstiger, neugieriger, impertinenter . . .« Und dann fiel ihm ein, zu spät natürlich, daß er den Grimmeishausen im Club gelassen hatte. »O verdammt!« rief er sopra voce aus und hielt zur Bekräftigung in seinem Trab inne. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Er würde sein Londoner Haus verkaufen. Das stand fest. Während er sich wiederum unter dem Vordach des Clubs eng an den Zigarettenautomaten drückte, um das Ende des Wolkenbruchs abzuwarten, hatte er diesen schwerwiegenden Entschluß gefaßt. Die Immobilienpreise waren in London ins Unermeßliche ge­stiegen, das hörte man von allen Seiten. Gut. Er würde verkaufen und mit einem Teil des Erlöses ein Cottage in den Cotswolds er­stehen. Burford? Zu viel Verkehr. Steeple Aston, das war ideal. Er würde sich dort als harmloser Sonderling etablieren, als zer­streuter, zurückgezogen lebender Kauz mit ein paar liebenswerten Eigenschaften, zum Beispiel Selbstgespräche führen, wenn er durch das Städtchen schlenderte. Ein bißchen rückständig viel­leicht, aber wer war das heutzutage nicht? Rückständig, aber der eigenen Zeit treu geblieben. Für jeden Menschen kommt schließ­lich der Moment, da er sich entscheidet: wird er vorwärtsgehen, wird er rückwärtsgehen? Es war nicht unehrenhaft, wenn man sich nicht von jedem modernen Lüftchen durcheinanderwehen ließ. Es war besser, Bestand zu haben, sich zu verschanzen, eine Eiche aus der eigenen Generation zu sein. Und falls Ann zu ihm zurückzukommen wünschte, würde er ihr die Tür weisen. Oder ihr nicht die Tür weisen, je nachdem, wie sehr sie zurückzu­kommen wünschte.

Von diesen Zukunftsbildern getröstet, kam Smiley zur King's Road, wo er auf dem Gehsteig stehenblieb, als wollte er hinüber. Zu beiden Seiten strahlende Schaufenster. Vor ihm seine heimat­liche Bywater Street, eine Sackgasse, genau 117 Smileyschritte lang. Als er hier eingezogen war, hatten diese georgianischen Cottages einen bescheidenen, vergammelten Charme besessen, junge Paare hatten sich hier schlecht und recht mit fünfzehn Pfund pro Woche und einem steuerfreien, im Kellergeschoß ver­steckten, Untermieter durchgeschlagen. Jetzt schützten Stahl­gitter ihre unteren Fenster, und vor jedem Haus verstellten drei Autos den Weg. Aus alter Gewohnheit hielt Smiley unter ihnen Musterung ab, prüfte, welche ihm bekannt waren und welche nicht; bei den unbekannten, welche von ihnen Antennen und zusätzliche Spiegel hatten, welche zu jenen geschlossenen Liefer­wagen gehörten, wie Observanten sie gern benutzten. Es war zum Teil ein Gedächtnistest, zum Teil ein privates Spiel, um seine Wachsamkeit vor dem Verkümmern im Ruhestand zu bewahren, genau wie er unlängst die Namen der Geschäfte an seiner Bus­strecke zum Britischen Museum auswendig gelernt hatte; genau wie er wußte, wie viele Stufen jeder Treppenabsatz in seinem Haus zählte und in welche Richtung sich jede der zwölf Türen öffnete.

Aber Smiley hatte noch einen anderen Grund, und der war Furcht, die geheime Furcht, die jeden Professionellen bis ins Grab ver­folgt. Daß nämlich eines Tages, aus dem Dschungel einer Ver­gangenheit, in der er sich mehr Feinde gemacht haben mochte, als er selber noch wußte, einer von ihnen ihn finden und Abrech­nung halten würde.

Am Ende der Straße führte eine Nachbarin ihren Hund spazieren; als sie ihn sah, hob sie den Kopf und wollte etwas sagen, aber er tat, als sähe er sie nicht, denn er wußte, sie würde von Ann anfangen. Er überquerte die Straße. Sein Haus lag im Dunkeln, die Gardinen waren so, wie er sie zurückgelassen hatte. Er stieg die sechs Stufen zur Vordertür hinauf. Seit Anns Abreise hatte ihn auch seine Putzfrau verlassen: niemand außer Ann hatte einen Schlüssel. An der Tür waren zwei Schlösser, ein Riegelschloß und ein Chubb-Schloß, und zwei Splinte seiner eigenen Her­stellung, daumennagelgroße Stückchen Eichenholz, über- und unterhalb des Riegelschlosses in die Tür geklemmt. Ein Über­bleibsel aus seiner Zeit im Außendienst. In letzter Zeit pflegte er, ohne zu wissen warum, diese Holzsplinte wieder einzuklemmen; vielleicht wollte er nicht, daß Ann ihn überraschte. Mit den Fingerspitzen stellte er fest, daß beide an ihrem Platz waren. Nach dieser Routineprüfung schloß er die Tür auf, schob sie nach innen und spürte, wie die Mittagspost über den Teppich rutschte. Was war heute fällig, fragte er sich. German Life and Letters? Philologie? Philologie war fällig, entschied er. Er knipste das Licht in der Diele an, bückte sich und warf einen Blick auf seine Post. Eine »beiliegende Rechnung« von seinem Schneider für einen Anzug, den er nicht bestellt hatte und der, wie er vermutete, im Moment Anns Liebhaber zur Zier gereichte; eine Rechnung von einer Garage in Henley für ihr Benzin - was hatten sie bloß in Henley zu suchen, abgebrannt, am neunten Oktober? - ein Brief von der Bank betreffs einer Vollmacht für Barabhebungen bei einer Zweigstelle der Midland Bank in Immingham, zugunsten von Lady Ann Smiley.