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Nun überdachte Jim mit der leidenschaftlichen Gelassenheit des Profis noch einmal den zurückgelegten Weg. In einer Ladenarkade neben dem Wenzelsplatz hatten ihn drei Frauen überholt, die mittlere schob einen Kinderwagen. Die Frau auf der Fahrbahn­seite trug eine rote Plastikhandtasche, und die Frau, die ganz innen ging, führte einen Hund an der Leine. Zehn Minuten später waren ihm zwei Frauen, Arm in Arm, entgegengekommen, sie hatten es eilig gehabt, und er dachte, wenn Toby Esterhase diese Sache organisiert hätte, so wäre das genau seine Handschrift; schnelle Ablösung am Kinderwagen, in einiger Entfernung Ein­satzwagen mit Kurzwellensender oder - und ein zweites Team in Bereitschaft, für den Fall, daß das erste zum Überholen gezwungen sein würde. Als Jim nun am Masaryk-Bahnhof die beiden Frauen ansah, die vor ihm in der Schlange am Schalter standen, wußte er, daß es jetzt soweit war. Es gibt ein Kleidungs­stück, das ein Beschatter weder wechseln kann noch will, schon gar nicht bei naßkaltem Wetter, und das ist sein Schuhwerk. Von den beiden Paaren, die sich am Schalter seinen Blicken darboten, erkannte Jim das eine wieder: pelzbesetzte Plastikstiefel, schwarz, mit Reißverschluß an der Außenseite und diesen dicken braunen Synthetiksohlen, die im Schnee quietschen. Er hatte sie an diesem Vormittag schon einmal gesehen, in der Sterba-Passage; die Frau, die den Kinderwagen an ihm vorbeischob, hatte sie unter einem anderen Mantel getragen. Von da an vermutete Jim nichts mehr. Er wußte, genau wie Smiley gewußt hätte. Am Zeitungsstand kaufte Jim sich eine Rude Pravo und stieg in den Zug nach Brunn. Wenn die ihn hätten festnehmen wollen, dann wäre es schon passiert. Sie mußten hinter den Nebenlinien her sein: das heißt, sie folgten Jim, um seine Verbindungsleute dingfest zu machen. Es hatte keinen Sinn, sich über das Warum den Kopf zu zer­brechen, aber Jim vermutete, daß die Hajek-Papiere hochge­gangen waren und daß sie die Falle schon aufgestellt hatten, als er den Flug buchte. Solange sie nicht wußten, daß er die Hajek-Papiere ins Klo gespült hatte, war er noch immer im Vorteil; und für kurze Zeit war Smiley wieder im besetzten Deutschland, in seinem einzigen Einsatz als Außenagent, ein Leben in ständiger Angst, jeder Blick eines Fremden schien bis auf die Haut zu gehen. Er hätte ursprünglich den Zug um dreizehn Uhr acht benutzen sollen, der in Brunn um sechzehn Uhr siebenundzwanzig ankam. Er fiel aus, und Jim nahm einen wunderschönen Personenzug, einen Sonderzug zum Fußball-Match, der an jeder zweiten Laterne hielt, und jedesmal vermeinte Jim, seine Wachmannschaft heraus­picken zu können. Ihre Qualität war unterschiedlich. In Chocen, einem elenden Kaff, stieg er aus, kaufte sich eine Wurst, und da standen nicht weniger als fünf, alles Männer, über den Bahnsteig verteilt, Hände in den Taschen, und taten so, als plauderten sie miteinander und machten sich verdammt lächerlich. »Wenn's etwas gibt, was einen guten Beschatter von einem schlechten unterscheidet«, sagte Jim, »dann ist es die sanfte Kunst, alles ganz überzeugend wirken zu lassen.«

In Switawi kamen zwei Männer und eine Frau in sein Abteil und unterhielten sich über das große Match. Nach einer Weile betei­ligte Jim sich an ihrem Gespräch: er hatte in seiner Zeitung alles darüber gelesen. Es war ein Club-Rückspiel, und alle Leute waren schon ganz verrückt. Bis Brunn hatte sich nichts Neues mehr ereignet, er stieg also aus und schlenderte durch Geschäfte und belebte Straßen, so daß sie ihm dicht auf den Fersen bleiben muß­ten, um ihn nicht zu verlieren.

Er wollte sie in Sicherheit wiegen, ihnen beweisen, daß er nichts ahnte. Er wußte jetzt, daß er das Ziel eines, wie Toby es nennen würde, großen Schlemm war. Die Fußgänger arbeiteten in Teams zu je sieben. Die Autos wechselten so oft, daß er sie nicht zählen konnte. Die Leitung der Aktion lag bei einem schäbigen grünen Lieferwagen, der von einem Schlägertyp gefahren wurde. Der Lieferwagen hatte eine Rundantenne, und hoch am Heck war mit Kreide ein Stern aufgemalt, an einer Stelle, die ein Kind nicht erreichen konnte. Die Autos, die er identifizieren konnte, hatten als gegenseitiges Erkennungszeichen eine Damenhandtasche auf dem Handschuhbord und eine heruntergeklappte Sonnenblende über dem Beifahrersitz. Vermutlich gab es auch noch andere Zeichen, aber diese beiden genügten Jim. Aus Tobys Erzählungen wußte er, daß solche Einsätze bis zu hundert Leuten erforderten und dennoch ergebnislos verliefen, wenn das Wild plötzlich einen Haken schlug. Deshalb haßte Toby sie.

Am Hauptplatz von Brunn gibt es einen Laden, der rein alles verkauft, sagte Jim. In der Tschechoslowakei ist das Einkaufen im allgemeinen eine Plage, weil jeder der staatlichen Industrie­zweige seine eigenen Verkaufsstellen hat, aber dieses Geschäft war neu und recht ansehnlich. Er kaufte Spielsachen, einen Schal, Zigaretten und probierte Schuhe an. Er nahm an, daß seine Be­schatter noch immer auf seine Kontaktperson lauerten. Er klaute eine Pelzmütze und einen weißen Plastikregenmantel und eine Tragetasche, um beides hineinzustecken. Er trieb sich in der Herrenabteilung lange genug herum, um sich zu vergewissern, daß die beiden Frauen, die das vorderste Paar bildeten, noch im­mer hinter ihm her waren, jedoch zögerten, ihm zu nahe zu kommen. Wahrscheinlich hatten sie männliche Ablösung ange­fordert und warteten nun. In der Herrentoilette handelte er blitz­schnell. Er zog die weiße Regenhaut über seinen Mantel, stopfte den Tragbeutel in die Tasche und setzte die Pelzmütze auf. Er ließ seine übrigen Pakete liegen und rannte dann wie ein Irrer über die Nottreppe hinunter, stieß eine Feuertür auf, sauste eine Hintergasse entlang, schlenderte gemächlich durch eine weitere, eine Einbahnstraße, stopfte den weißen Regenmantel in den Tragebeutel, schlüpfte gerade noch in einen Laden, der bereits schließen wollte und kaufte sich dort einen schwarzen Regen­mantel, den er an Stelle des weißen überzog. Im Schutz der hin­ausströmenden Kunden quetschte er sich in eine volle Tram, blieb bis zur vorletzten Haltestelle, marschierte eine Stunde lang und schaffte den Ausweichtreff mit Max auf die Minute.

Nun beschrieb er sein Gespräch mit Max und sagte, um ein Haar hätten sie sich geprügelt.

Smiley fragte: »Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, die Sache fallenzulassen?«

»Nein. Bin ich nicht«, bellte Jim.

Seine Stimme hob sich drohend.

»Obwohl Sie von Anfang an fanden, daß es eine Schnapsidee war?« In Smileys Tonfall schwang nichts als Nachsicht. Keine Schärfe, kein Wunsch, Jim ins Unrecht zu setzen: nur der Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, sonnenklar unter dem Nachthimmel. »Sie sind einfach weitermarschiert. Sie hatten gesehen, was Ihnen im Rücken drohte, Sie fanden den Auftrag absurd, aber Sie mar­schierten weiter, immer tiefer hinein in den Dschungel.«

»Ja.«

»Oder sahen Sie den Auftrag inzwischen mit anderen Augen? Hat Sie schließlich die Neugier vorwärtsgetrieben, war das der Grund? Weil Sie zum Beispiel leidenschaftlich gern wissen woll­ten, wer der Maulwurf war? Ich stelle nur Vermutungen an, Jim.«

»Was hat das schon zu sagen? Was zum Teufel haben meine Grün­de zu sagen, wenn's um eine solche Schweinerei geht?« Der Halbmond über dem Hügel war aus den Wolken hervor­gekommen und schien sehr nah. Jim setzte sich auf die Bank. Sie stand auf einer Kiesfläche, und während des Sprechens nahm er dann und wann einen Kiesel auf und schleuderte ihn mit einem Rückhandwurf ins Farngestrüpp. Smiley saß neben ihm und schaute immer nur Jim an. Einmal trank er ebenfalls einen Schluck Wodka, um Jim Gesellschaft zu leisten und dachte an Tarr und Irina und, wie sie damals auf ihrem Hügel in Hongkong getrunken hatten. Es muß eine Berufsgewohnheit sein, dachte er: wir sprechen leichter, wenn wir eine Aussicht vor uns haben. Durch das Fenster des geparkten Fiat, sagte Jim, kam das Code­wort ohne Zögern. Der Fahrer war einer jener steifen, muskel­bepackten tschechischen Magyaren mit Schnurrbart á la Ed­ward VII. und einem Mund voller Knoblauch. Jim mochte ihn nicht, hatte das aber auch nicht erwartet. Die beiden hinteren Türen waren verschlossen, und es gab einen Streit darüber, wo er sitzen sollte. Der Magyar sagte, aus Sicherheitsgründen solle Jim nicht hinten sitzen. Außerdem sei es undemokratisch. Jim wünschte ihn zum Teufel. Er fragte Jim, ob er einen Revolver habe, und Jim sagte nein, was eine Lüge war, aber wenn der Magyar ihm nicht glaubte, so wagte er doch nicht, es zu sagen. Er fragte, ob Jim Anweisungen für den General mitgebracht habe? Jim sagte, er habe gar nichts mitgebracht. Er sei gekommen, um zuzuhören.