»Sie sind von Sinnen, Ricki. Nicht die Russen wollen Sie umbringen, sondern unsere Leute.«
Der vordere Raum wurde als Empfang bezeichnet, das einzige, was von der Tarnung übriggeblieben war. Eine alte Holztheke stand darin, und an den schmuddeligen Wänden hingen längst überholte Bekanntmachungen an britische Staatsbürger. Hier durchsuchte Tarr mit der linken Hand Mackelvore nach einer Waffe, fand jedoch keine. Das Haus war im Geviert um einen Innenhof erbaut, und fast alles Wichtige lag über dem Hof: der Chiffrierraum, der Tresorraum und die Apparate. »Sie sind wahnsinnig, Ricki«, warnte Mackelvore nochmals, als er durch eine Reihe leerer Büros voranging und am Chiffrierraum klingelte. »Sie hielten sich schon immer für Napoleon Bonaparte, und jetzt sind Sie vollends übergeschnappt. Sie haben von Ihrem Dad zuviel Religion erwischt.«
Die stählerne Sprechklappe wurde zurückgeschoben, und ein fragendes, leicht albernes Gesicht erschien in der Öffnung. »Sie können nach Hause gehen, Ben. Gehen Sie heim zu Ihrer Missus, aber gehen Sie nicht weit vom Telefon weg, falls ich Sie brauchen sollte, mein Junge. Lassen Sie die Bücher da, wo sie sind, und stecken Sie die Schlüssel in die Maschinen. Ich muß sofort mit London sprechen, und zwar allein.«
Das Gesicht verschwand, und sie warteten, bis der junge Mann die Tür von drinnen aufgeschlossen hatte: ein Schlüssel, noch ein Schlüssel, ein Schnappschloß.
»Dieser Herr kommt aus Nahost, Ben«, erklärte Mackelvore, als die Tür aufging. »Er ist einer meiner allerbesten V-Leute.«
»Hallo, Sir«, sagte Ben. Er war ein großer Junge, der aussah wie ein Mathematikstudent, mit Brille und beharrlichem Blick. »Trollen Sie sich nur, Ben. Ich werd's Ihnen nicht abziehen. Sie haben das Wochenende frei bei voller Bezahlung, und Sie müssen die Zeit auch nicht nacharbeiten. Also raus mit Ihnen.«
»Ben bleibt hier«, sagte Tarr.
Die Beleuchtung am Cambridge Circus war gelb, und von Mendels Standplatz im dritten Stockwerk des Bekleidungshauses funkelte die nasse Fahrbahn wie Golddouble. Es war fast Mitternacht, und er stand seit drei Stunden dort. Er stand zwischen einer Netzgardine und einem Kleidergestell. Er stand so, wie Polizisten auf der ganzen Welt stehen: Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt, Beine gestreckt, leicht über die Standlinie zurückgebeugt. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen und den Kragen hochgeschlagen, damit man von der Straße aus sein weißes Gesicht nicht sehen könne, aber seine Augen, die den Vordereingang gegenüber beobachteten, leuchteten wie Katzenaugen in einem Keller.
Er würde noch weitere drei Stunden warten oder weitere sechs: Mendel war wieder auf Kriegspfad, die Witterung der Jagd war in seinen Nüstern. Mehr noch, er war ein Nachtvogel; die Dunkelheit in dieser Kleiderwerkstatt weckte alle seine Sinne. Das Straßenlicht, das bis hierherauf reichte, warf blasse Flecken an die Decke des Raumes. Alles übrige, die Zuschneidetische, die Stoffballen, die zugedeckten Nähmaschinen, das Dampfbügeleisen, die signierten Fotos der Fürstlichkeiten von Geblüt, war nur vorhanden, weil er es auf seinem Erkundungsgang am Nachmittag gesehen hatte; das Licht reichte nicht bis zu diesen Gegenständen, und sogar jetzt konnte er sie kaum ausmachen.
Von seinem Fenster aus überblickte er fast alles, was sich drunten tat: acht oder neun ungleiche Straßen und Gassen, die ohne ersichtlichen Grund Cambridge Circus zum Treffpunkt gewählt hatten.
Die Gebäude zwischen ihnen waren Tineff, mit Stilzutaten billig herausgeputzt: eine romantische Bank, ein Theater wie eine große säkularisierte Moschee. Dahinter schoben sich Hochbauten vor wie eine Armee von Robotern. Darüber füllte ein rosa Himmel sich langsam mit Nebel.
Warum war es so still? fragte er sich. Das Theater hatte zwar längst Schluß gemacht, aber warum sorgte die Vergnügungsindustrie von Soho, die nur einen Steinwurf von seinem Fenster entfernt war, nicht dafür, daß der Platz voll von Taxis und Gruppen von Nachtschwärmern war? Kein einziger Lastwagen mit Obst war auf dem Weg nach Covent Garden durch die Shaftesbury Avenue gerumpelt.
Wieder einmal betrachtete Mendel durch seinen Feldstecher das Haus direkt gegenüber. Es schien noch tiefer zu schlafen als seine Nachbarn. Die Doppeltüren des Eingangs waren geschlossen und in den Fenstern des Erdgeschosses war kein Licht zu sehen. Nur in der dritten Etage kam aus dem zweiten Fenster von links ein bleicher Schein, und Mendel wußte, daß es das Zimmer des Diensthabenden war, Smiley hatte es ihm gesagt. Er hob das Glas kurz zum Dach, wo ein Antennenwald wilde Muster an den Himmel zeichnete; dann ein Stockwerk tiefer auf die vier abgedunkelten Fenster der Funkabteilung.
»Nachts benutzen alle den Vordereingang«, hatte Guillam gesagt. »Dadurch spart man Portiers ein.«
In diesen drei Stunden hatten nur drei Ereignisse Mendels Wachsamkeit belohnt: eines pro Stunde ist nicht viel. Um fünf nach neun hatte ein blauer Ford Transit zwei Männer abgesetzt, die etwas trugen, das wie eine Munitionskiste aussah. Sie schlossen sich die Tür selber auf und wieder zu, sobald sie drinnen waren, während Mendel seinen Kommentar ins Telefon flüsterte. Um zehn Uhr oder wenig später war der Pendelbus angekommen: darauf hatte Guillam ihn ebenfalls vorbereitet. Der Pendelbus sammelte heiße Dokumente von den umliegenden Dienststellen und brachte sie übers Wochenende in den Safe des Circus. Er fuhr in Brixton vor, in Acton und in Sarratt, in dieser Reihenfolge, sagte Guillam, zuletzt bei der Admiralität, und war um zehn Uhr soundsoviel im Circus. An diesem Abend kam er punkt zehn an, und dieses Mal stürzten zwei Männer aus dem Haus und halfen beim Abladen: Mendel meldete auch dies, und Smiley bestätigte die Meldung mit einem geduldigen: »Danke.« Saß Smiley irgendwo? Stand er im Dunkeln wie Mendel? Mendel vermutete es. Von all den komischen Vögeln, die er je gekannt hatte, war Smiley der komischste. Wenn man ihn sah, glaubte man, er könne nicht allein über die Straße gehen, aber man hätte genausogut einem Igel seinen Schutz anbieten können. Spinner, dachte Mendel. Ein Leben lang Verbrecher gejagt, und wie ende ich? Einbruch und unbefugtes Betreten, im Dunkeln stehen und die Spinner bespitzeln. Er hatte nie etwas für Spinner übrig gehabt, bis er Smiley kennenlernte. Hielt sie für eine lästige Bande von Amateuren und College-Boys; hielt sie für verfassungswidrig; dachte, das Beste, was diese besondere Branche um ihres eigenen Wohls und des Wohls der Öffentlichkeit willen tun könne, sei »Ja, Sir«, »Nein, Sir« sagen, und die Unterlagen verlieren. Apropos, mit Ausnahme von Smiley und Guillam war es genau das, was er auch an diesem Abend dachte. Kurz vor elf, also vor genau einer Stunde, war ein Taxi gekommen. Eine gewöhnliche zugelassene Londoner Autodroschke, die vor dem Theater hielt. Auch darauf hatte Smiley ihn hingewiesen: es war beim Geheimdienst üblich, daß man Taxis nie bis an die Tür fahren ließ. Manche hielten bei Foyle's Buchhandlung, manche in der Old Compton Street oder vor einem der Geschäfte; die meisten Circus-Leute hatten ein bestimmtes Tarnziel, Alleline zum Beispiel fuhr immer bis zum Theater. Mendel hatte Alleline noch nie gesehen, aber er hatte seine Beschreibung, und als er ihn durch das Glas beobachtete, erkannte er ihn zweifelsfrei, einen großen, schwerfälligen Mann im dunklen Mantel, und er sah sogar, daß der Taxifahrer das Trinkgeld mit saurer Miene betrachtete und ihm etwas nachrief, als Alleline nach seinen Schlüsseln tastete.
Die Vordertür ist nicht gesichert, hatte Guillam ihm erklärt, sie ist nur verschlossen. Die Sicherung beginnt erst drinnen, wenn man am Ende des Korridors links abgebogen ist. Alleline haust in der fünften Etage. Sie werden kein Licht in seinen Fenstern sehen, aber durch ein Oberlichtfenster fällt der Schein auf einen hohen Schornstein. Und tatsächlich erschien, während er das Glas nach oben gerichtet hatte, ein gelber Fleck auf den verschmutzten Klinkern des Schornsteins: Alleline hatte sein Büro betreten.