»Probieren wir's mal aus«, sagte Guillam, und während Smiley hinaufging, um das Bandgerät zu kontrollieren, sang Guillam >Old Man River< mit der grollenden Baßstimme Paul Robesons. »Vielen Dank«, sagte Smiley und schauderte, »das genügt vollauf.« Millie war ins Souterrain hinuntergegangen, um Lacon anzurufen. Smiley richtete in aller Ruhe die Bühne her. Er stellte die Telefone neben einen Sessel im Wohnzimmer, dann machte er sich den Rückzug in die Spülküche frei. Er holte zwei volle Milchflaschen aus der Coca-Cola-Kühlbox in der Küche und stellte sie vor die Tür, um im McCraigschen Esperanto zu sagen, daß sie hereinkommen könnten und alles in Ordnung sei. Er zog die Schuhe aus, trug sie in die Spülküche, machte alle Lichter aus und hatte gerade seinen Posten im Sessel bezogen, als Mendel seinen Kontrollanruf tätigte.
Guillam hatte währenddessen auf dem Treidelpfad die Überwachung des Hauses wieder aufgenommen. Dieser Pfad wird eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit für die Öffentlichkeit gesperrt; danach dient er sowohl als Stelldichein für Liebespaare wie als Asyl für Clochards; beiden ist, wenn auch aus verschiedenen Gründen, die Dunkelheit unter den Brücken lieb. In dieser kalten Nacht sah Guillam jedoch keinen Menschen. Dann und wann raste ein unbesetzter Zug vorbei und hinterließ eine noch größere Leere. Seine Nerven waren so gespannt, seine Erwartungen so mannigfach, daß er einen Augenblick lang die ganze Szenerie dieser Nacht in apokalyptischen Bildern sah: die Signale auf der Eisenbahnbrücke wurden zu Galgen, die victorianischen Lagerhäuser mit ihren vergitterten Fenstern und Gewölben, die sich vor dem dunstigen Himmel abzeichneten, zu gigantischen Gefängnissen. Nahebei das Rascheln von Ratten und der Gestank von Brackwasser. Dann erloschen die Lichter im Wohnzimmer, und das Haus lag im Dunkeln, mit Ausnahme der gelblichen Ritzen zu beiden Seiten von Millies Souterrain-Fenster. Aus der Spülküche winkte ihm ein dünner Lichtstrahl über den ungepflegten Garten hinweg. Er nahm eine Füllhalter-Lampe aus der Tasche, entfernte die silberne Kappe, visierte mit zitternden Fingern den Punkt an, von dem das Licht gekommen war und signalisierte zurück. Von jetzt an konnten sie nur noch warten.
Tarr warf das eingegangene Telegramm Ben zu, zusammen mit der Codeliste zum einmaligen Gebrauch aus dem Safe. »Los«, sagte er, »verdienen Sie Ihr Geld, Trennen Sie's auf.«
»Es ist an Sie persönlich«, wandte Ben ein. »Sehen Sie. Persönlich von Alleline nur vom Adressaten zu entschlüsseln. < Ich darf es nicht anfassen. Es ist topsecret.«
»Tun Sie, was er sagt, Ben«, sagte Mackelvore und beobachtete Tarr.
Zehn Minuten lang wurde zwischen den drei Männern kein Wort gesprochen. Tarr stand am anderen Ende des Raums, sehr nervös vom Warten. Die Kanone hatte er in den Hosenbund gesteckt, Kolben nach innen, zur Leiste. Seine Jacke lag über einem Stuhl. Der Schweiß hatte sein Hemd am ganzen Rücken festgeklebt. Ben las mit Hilfe eines Lineals die Zahlengruppen ab und schrieb seine Ergebnisse sorgfältig auf einen Zeichenblock mit Maßeinteilung, der vor ihm lag. Zwecks besserer Konzentration hatte er die Zunge gegen die Zähne gepreßt, und jetzt zog er sie mit einem leisen Schnalzen zurück. Dann legte er den Stift weg und reichte Tarr das Abreißblatt. »Lesen Sie vor«, sagte Tarr.
Bens Stimme war freundlich und ein bißchen erregt. »>Persönlich an Tarr von Alleline, nur vom Adressaten zu entschlüsseln. Verlange entschieden Aufklärung bzw. Proben vor Erfüllung Ihrer Forderung. Information in Anführung lebenswichtig für Sicherheit der Dienststelle Abführung nicht qualifiziert. Bedenken Sie Ihre ungünstige Position hier infolge schimpflichen Verschwindens stop Mackelvore ist unverzüglich ins Bild zu setzen wiederhole unverzüglich stop Chef. <«
Ben war noch nicht ganz zu Ende, als Tarr bereits seltsam unbeherrscht zu lachen begann.
»So ist's richtig, Percy-Boy!« schrie er. »Ja wiederhole nein! Wissen Sie, warum er mauert, Herzenslieben? Er nimmt Maß, um mich in den Rücken zu schießen! Genauso hat er mein Ruskimädel erwischt. Wieder seine alte Masche, dieser gemeine Hund.« Er zauste Bens Haar, schrie ihn an, lachte: »Ich warne Sie, Ben: in diesem Laden stecken ein paar ganz falsche Fuffziger, also traun Sie keinem einzigen von ihnen, lassen Sie sich's gesagt sein, oder Sie werden nie groß und stark werden!«
Im dunklen Wohnzimmer wartete auch Smiley, er saß allein im unbequemen Sessel der Haushälterin, die Hörmuschel des Telefons schmerzhaft gegen den Kopf geklemmt. Dann und wann murmelte er etwas, und Mendel murmelte zurück, meist jedoch verband sie das Schweigen. Seine Stimmung war mäßig, sogar ein bißchen trübe. Wie ein Schauspieler hatte er Lampenfieber, ehe der Vorhang hochging, ein Gefühl, als ob alles Große plötzlich zu einem kleinlichen, miesen Ende zusammenschrumpfte; schließlich erschien ihm nach den Kämpfen seines Lebens sogar der Tod kleinlich und mies. Er war sich keines Siegesgefühls bewußt. Wie so oft, wenn er Furcht empfand, kreisten seine Gedanken um die betroffenen Menschen. Er hatte keine besonderen Theorien oder fertigen Urteile. Er überlegte nur, in welcher Weise jeder einzelne berührt würde; und er fühlte sich verantwortlich. Er dachte an Jim und Sam und Max und Connie und Jerry Westerby und die vielen persönlichen Treuebande, die zerrissen waren; auf anderer Ebene dachte er an Ann und die hoffnungslose Verworrenheit ihres Gesprächs auf den Klippen Cornwalls; er fragte sich, ob es überhaupt Liebe zwischen Menschen gab, die nicht auf irgendeiner Art von Selbsttäuschung beruhte; am liebsten wäre er einfach aufgestanden und weggegangen, ehe es passieren würde, aber das konnte er nicht. Er machte sich, fast wie ein Vater, Sorgen um Guillam, fragte sich, wie er die verspäteten Mühen des Erwachsenwerdens verkraften mochte. Wieder dachte er an den Tag, an dem er Control begrub. Er dachte über Verrat nach und überlegte, ob es wohl fahrlässigen Verrat geben könne, so wie es fahrlässige Körperverletzung gibt. Es bestürzte ihn, daß er sich so am Ende fühlte; daß alle intellektuellen oder philosophischen Leitlinien, an die er sich gehalten hatte, völlig zusammenbrachen, jetzt, da er sich mit der Situation des Menschen konfrontiert sah. »Gibt's was?« fragte er Mendel über das Telefon. »Ein paar Betrunkene«, sagte Mendel, »sie singen > Am Tag, als der Regen kam<.«
»Nie gehört.«
Er nahm den Hörer ans linke Ohr und zog die Pistole aus der Brusttasche seines Jacketts, wo sie bereits das vorzügliche Seidenfutter ruiniert hatte. Er entdeckte die Sicherung und amüsierte sich flüchtig bei dem Gedanken, daß er nicht wußte, welche Stellung >zu< und welche >auf< bedeutete. Er ließ das Magazin herausgleiten und steckte es wieder hinein und erinnerte sich, wie er es Hunderte von Malen im Laufen getan hatte, bei den Nachtübungen in Sarratt vor dem Krieg; er erinnerte sich daran, daß man immer mit beiden Händen schoß, Sir, eine hält die Pistole und die andere das Magazin, Sir; und an jenes Detail der Circus-Folklore, das verlangte, daß er den Zeigefinger der einen Hand flach an den Lauf legen und den Abzug mit dem anderen drücken sollte. Aber als er es versuchte, war das Gefühl dabei ausgesprochen lächerlich, und er ließ es sein.
»Geh ein bißchen spazieren«, murmelte er, und Mendel sagte: »Nur zu.«
Die Pistole noch immer in der Hand, ging er in die Spülküche, lauschte dabei auf ein Knarren der Bodenbretter, das ihn verraten könnte, aber der Boden unter dem Strohteppich mußte Zement sein; er hätte darauf herumhüpfen können, ohne daß auch nur eine Schwingung entstanden wäre. Mit der Taschenlampe gab er zwei kurze Signale, machte eine lange Pause und gab nochmals zwei. Sofort antwortete Guillam mit drei kurzen Zeichen. »Wieder zurück«