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»Verstanden», sagte Mendel.

Er ließ sich nieder und dachte mißlaunig an Ann: den unmögli­chen Traum träumen. Er steckte die Pistole in die Tasche. Vom Kanal her das Muhen eines Nebelhorns. Bei Nacht? Fuhren dort Schiffe bei Nacht? Mußte ein Auto sein. Wie, wenn Gerald eine komplette Notstands-Prozedur hatte, über die wir nichts wissen? Verbindung zwischen Fernsprechzellen, einen Auto-Treff? Wie, wenn Poljakow doch einen Kurier hatte, einen Gehilfen, den Connie nie identifizieren konnte? Das war ihm alles schon unter­gekommen. Solche Systeme waren wasserdicht, waren bei Zusam­menkünften unter allen möglichen Umständen anwendbar. Wenn's ums Handwerkliche geht, ist Karla ein Pedant. Und seine fixe Idee, daß er beschattet wurde? Was war damit? Was war mit dem Schatten, den er nicht gesehen, nur gefühlt hatte, bis sein Rücken unter dem beharrlichen Blick seines Beob­achters zu kribbeln schien; er hatte nichts gesehen, nichts gehört, nur gefühlt. Er war zu alt, um die Warnung in den Wind zu schla­gen. Das Knarren einer Stufe, die sonst nie geknarrt hatte; das Klappern eines Fensterladens, obwohl kein Wind ging; das Auto mit anderen Nummernschildern, aber dem gleichen Kratzer auf dem inneren Kotflügeclass="underline" das Gesicht in der U-Bahn, das man be­stimmt schon irgendwo gesehen hatte: er hatte einmal jahrelang mit diesen Zeichen gelebt; jedes einzelne von ihnen war ein aus­reichender Grund gewesen, sich zu verändern, die Stadt zu wech­seln, die Identität. Denn in diesem Beruf gibt es keine bloßen Zu­fälle.

»Einer geht«, sagte Mendel plötzlich. »Hallo?«

»Bin da.«

Jemand sei gerade aus dem Circus gekommen, sagte Mendel. Vor­dertür, aber er konnte nicht genau feststellen, wer es war. Trug Regenmantel und Hut. Bullig, rascher Schritt. Er mußte ein Taxi vor die Tür bestellt haben und direkt eingestiegen sein. »Fährt nach Norden, in Ihre Richtung.«

Smiley schaute auf seine Uhr. Gib ihm zehn Minuten, dachte er. Gib ihm zwölf, er wird unterwegs haltmachen und Poljakow an­rufen müssen. Dann dachte er: sei nicht albern, das hat er bereits vom Circus aus erledigt. »Ich lege auf«, sagte Smiley. »Cheers«, sagte Mendel.

Guillam auf dem Treidelpfad las drei lange Lichtzeichen. Der Maulwurf ist unterwegs.

In der Spülküche hatte Smiley noch einmal seine Piste geprüft, drei Liegestühle beiseite geschoben und an die Wäschemangel eine Schnur gebunden, die ihm als Leitseil dienen sollte, denn im Dun­keln sah er schlecht. Die Schnur führte zur offenen Küchentür, die Küche führte sowohl ins Wohnzimmer wie ins Speisezimmer, die beiden Türen lagen nebeneinander. Die Küche war ein lang­gestreckter Raum, genau gesagt ein Anbau, ehe das Glashaus an­gefügt worden war. Er hatte daran gedacht, das Eßzimmer zu be­nutzen, aber es war zu riskant, und außerdem konnte er vom Eß­zimmer aus keine Signale zu Guillam senden. Also wartete er in der Spülküche, kam sich lächerlich vor ohne Schuhe, in Socken, putzte seine Brille, denn die Hitze seines Gesichts beschlug dauernd die Gläser. Hier in der Spülküche war es viel kälter. Das Wohnzimmer war von anderen Zimmern umgeben und überheizt, die Spülküche dagegen hatte Außenwände, und das Glas und der Fliesenboden unter den Matten bewirkten, daß seine Füße sich feucht anfühl­ten. Der Maulwurf kommt als erster, dachte er, der Maulwurf spielt den Gastgeber: das gehört zum Protokoll, zu der Farce, wonach Poljakow Geralds Agent ist. Ein Londoner Taxi ist eine fliegende Bombe. Der Vergleich stieg langsam in ihm auf, aus den Tiefen seiner un­bewußten Erinnerung. Das Knattern, wenn es in die ansteigende Kurve einbiegt, das regelmäßige Tick-tack, während das Taxa­meter stillsteht. Das Halten: wo hat es angehalten, vor welchem Haus, während wir alle hier in der Straße im Dunkeln warten, un­ter Tischen kauern oder uns an Seilen festhalten, vor welchem Haus? Dann das Zuknallen der Tür, die Entspannung mit der Explosion: wenn du sie hören kannst, ist sie nicht für dich be­stimmt.

Aber Smiley hörte sie, und sie war für ihn bestimmt. Er hörte die Schritte eines Paars Füße auf dem Kies, flott und kraftvoll. Sie blieben stehen. Es ist die falsche Tür, dachte Smiley absurderweise, geh weg. Er hatte die Pistole in der Hand, die Si­cherung nach unten gedrückt. Er lauschte noch immer, hörte nichts. Du bist auf der Hut, Gerald, dachte er. Du bist ein alter Maulwurf, du witterst, daß etwas nicht stimmt. Millie, dachte er; Millie hat die Milchflaschen weggenommen, ein Warnzeichen auf­gestellt, ihn verscheucht. Millie hat uns den Fang verpatzt. Dann hörte er, wie das Schloß sich drehte, einmal, zweimal, es ist ein Banham-Schloß, erinnerte er sich, mein Gott, wir sorgen bei Banham für Absatz. Natürlich: der Maulwurf hatte seine Taschen nach dem Schlüssel abgeklopft. Ein nervöser Mensch hätte ihn bereits in der Hand gehalten, ihn umklammert, auf der ganzen Taxifahrt in seiner Tasche damit gespielt; nicht so der Maulwurf; der Maulwurf mochte beunruhigt sein, nervös war er nicht. Im gleichen Moment, indem das Schloß sich drehte, schlug die Klin­gel an: auch dies im Hauswarts-Geschmack, hoher Ton, tiefer Ton, hoher Ton. Das bedeutet, daß es einer von uns ist, hatte Millie gesagt; einer der Jungens, ihrer Jungen s, Connies Jungens, Karlas Jungens. Die Vordertür ging auf, jemand trat ins Haus, er hörte das Scharren der Fußmatte, er hörte das Schließen der Tür, er hörte das Klicken der Lichtschalter und sah einen blassen Strei­fen unter der Küchentür erscheinen, er steckte die Pistole in die Tasche und wischte sich die Handflächen an der Jacke ab, dann nahm er die Pistole wieder heraus, und im gleichen Augenblick hörte er eine zweite fliegende Bombe, ein zweites anhaltendes Taxi und rasche Schritte: Poljakow hatte nicht nur den Schlüssel bereitgehalten, er hatte auch das Fahrgeld bereitgehalten: geben Russen Trinkgelder, fragte er sich, oder sind Trinkgelder undemo­kratisch? Wieder schlug die Klingel an, die Vordertür öffnete und schloß sich und Smiley hörte das doppelte Klirren, als - wie Ord­nung und sauberes Arbeiten es befahlen - zwei Milchflaschen auf den Dielentisch gestellt wurden.

Gott sei mir gnädig, dachte Smiley voll Entsetzen und starrte auf den alten Coca-Cola-Kühlschrank neben sich, auf diesen Gedan­ken bin ich überhaupt nicht gekommen: wenn er sie jetzt in die Box hätte zurückstellen wollen?

Der Lichtstreifen unter der Küchentür wurde plötzlich heller, als die Lampen im Wohnzimmer angeschaltet wurden. Eine außer­gewöhnliche Stille senkte sich über das Haus. An das Seil geklam­mert schob Smiley sich langsam über den eiskalten Boden voran. Dann hörte er Stimmen. Zuerst waren sie undeutlich. Sie müssen noch am anderen Ende des Zimmers sein, dachte er. Oder viel­leicht fangen sie immer leise an. Jetzt kam Poljakow näher: er stand am Barwagen und goß Drinks ein.

»Wie ist unsere Tarngeschichte, falls wir gestört werden sollten?« fragte er in gutem Englisch.

Hübsche Stimme, erinnerte sich Smiley, melodisch wie die Ihre. Ich habe die Bänder oft zweimal abgespielt, nur um ihm zuzu­hören. Connie, Sie sollten ihn jetzt hören.

Vom entfernten Zimmerende her beantwortete ein gedämpftes Murmeln jede Frage. Smiley konnte nichts verstehen. »Wo sol­len wir uns wieder sammeln?«

»Was ist der Ausweich-Treff ? Ha­ben Sie irgend etwas bei sich, das Sie während unserer Unter­redung lieber mir übergeben möchten, da ich diplomatische Im­munität besitze?«

Es muß ein Katechismus sein, dachte Smiley, ein Teil von Karlas Schulungsroutine.

»Ist heruntergeschaltet? Würden Sie bitte nachsehen? Vielen Dank. Was möchten Sie trinken?«

»Scotch«, sagte Haydon, »und einen verdammt großen.« Mit dem Gefühl äußerster Ungläubigkeit lauschte Smiley der ver­trauten Stimme, die nun genau jenes Telegramm vorlas, das Smiley vor nur achtundvierzig Stunden ausschließlich zu Tarrs Händen abgefaßt hatte.

Dann lehnte sich einen Augenblick lang ein Teil von Smileys Per­sönlichkeit in offener Rebellion gegen den anderen auf. Die Woge zornigen Zweifels, die ihn in Lacons Garten überschwemmt und seitdem ständig wie ein feindlicher Sog sein Fortschreiten hatte hemmen wollen, schleuderte ihn jetzt auf die Klippen der Ver­zweiflung und trieb ihn dann in die Meuterei: Ich weigere mich. Nichts ist die Zerstörung eines anderen Menschen wert. Irgend­wo muß der Weg von Schmerz und Verrat sein Ende finden. Bis dahin gab es keine Zukunft: es gab nur ein stetes Abgleiten in noch grauenhaftere Versionen der Gegenwart. Dieser Mann war mein Freund und Anns Geliebter, Jims Freund und, soviel Smiley wußte, auch Jims Geliebter; dem Bereich der Öffentlichkeit ge­hörte nur der Verrat, nicht der Mann. Haydon hatte Verrat ge­übt. Als Geliebter, als Kollege, als Freund, als Patriot; als Mitglied jener unschätzbaren Gemeinschaft, die Ann vage als den Set be­zeichnete: in jeder dieser Eigenschaften hatte Haydon nach außen hin ein einziges Ziel verfolgt und insgeheim das Gegenteil davon erreicht. Smiley wußte sehr genau, daß er nicht einmal jetzt den vollen Umfang dieses haarsträubenden Doppelspiels begriff. Und doch meldete sich bereits etwas in ihm zu Haydons Verteidigung. War Bill nicht gleichfalls verraten worden? Connies Klage hallte ihm in den Ohren: »Die armen Kinder. Für das Empire erzogen, erzogen, um die Meere zu beherrschen . . . Sie sind der letzte, George, Sie und Bill.« Mit schmerzender Klarheit sah er einen ehrgeizigen Mann vor sich, der zu großen Dingen geboren war, erzogen zum Herrschen, Teilen und Erobern, dessen Planen und Trachten, genau wie es bei Percy der Fall war, dem Spiel mit der Weltkugel galt; für den die Wirklichkeit eine kümmerliche Insel war mit kaum einer Stimme darauf, die über das Wasser reichte. Daher empfand Smiley nicht nur Ekel; sondern, trotz allem, was dieser Augenblick für ihn bedeutete, regte sich Empörung gegen die Institutionen, die er von Amts wegen schützen sollte: »Der Gesellschaftsvertrag hat seine zwei Seiten«, hatte Lacon gesagt. Die lässige Verlogenheit des Ministers, Lacons schmallippige mo­ralische Selbstgefälligkeit, die brutale Gier Percy Allelines: solche Männer machten jeden Vertrag wertlos: warum sollte irgendwer ihnen die Treue halten?