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»Dramatisieren Sie nicht ein bißchen?« meinte Lacon. »Der ein­zige Platz auf der Welt, wohin er gehen kann, ist Rußland, und dorthin schicken wir ihn ohnedies.«

»Wann? Wie bald?«

Die Ausarbeitung der Einzelheiten würden noch ein paar Tage in Anspruch nehmen. Smiley verschmähte es in seiner Erschlaf­fung nach einem Zustand der Hochspannung zu fragen, ob es mit dem Verhör vorangehe, aber Lacons Verhalten legte nahe, daß die Antwort schlecht gewesen wäre. Mendel brachte ihm hand­festere Kost.

»Der Bahnhof Immingham ist geschlossen«, sagte er. »Sie werden in Grimsby aussteigen und auf Schusters Rappen laufen oder einen Bus nehmen müssen.«

Häufig saß Mendel einfach da und beobachtete ihn wie einen Kranken. »Das Warten bringt sie nicht zurück, oder?« sagte er. »Früher mal ging der Berg zu Mohammed. Ein zaghaft Herz hat nie die Schönste heimgeführt, wenn ich so sagen darf.« Am Morgen des dritten Tages klingelte es an der Tür, und Smiley ging so schnell öffnen, als könne es nur Ann sein, die wie üblich ihren Schlüssel verlegt hatte. Es war Lacon. Smiley werde in Sar­ratt benötigt, sagte er; Haydon bestehe darauf, mit ihm zu spre­chen. Die Inquisitoren hatten nichts erreicht, und die Zeit wurde knapp. Man war sich darüber einig, wenn Smiley als Beichtvater fungierte, würde Haydon ein Teilbekenntnis ablegen. »Es wurde mir versichert, daß kein Zwang ausgeübt wurde«, sagte Lacon.

Sarratt war ein trüber Anblick nach dem Glanz, an den Smiley sich erinnerte. Die meisten Ulmen waren dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen; Lichtmaste waren aus dem alten Kricketplatz hochgeschossen. Auch das Haus selber, ein weitläufiges, aus Ziegeln erbautes Herrenhaus, war seit der Blütezeit des Kalten Krieges in Europa sehr heruntergekommen, und der größte Teil des besseren Mobiliars schien verschwunden zu sein, er vermutete, in eines von Allelines Häusern. Er fand Haydon in einer Nissen­hütte, die unter Bäumen versteckt war.

Drinnen herrschte der Mief einer Wachstube, die Wände waren schwarz bemalt und die hochgelegenen Fenster vergittert. In den Zimmern zu beiden Seiten waren Wachmannschaften, und sie empfingen Smiley respektvoll und nannten ihn Sir. Offenbar hatte sich einiges herumgesprochen.

Er trug einen Drillichanzug, zitterte und klagte über Schwindel. Mehrmals mußte er sich aufs Bett legen, um das Nasenbluten zu stillen. Ihm war so etwas wie ein Bart gewachsen: anscheinend herrschte Uneinigkeit darüber, ob er ein Rasiermesser bekommen dürfe. »Kopf hoch«, sagte Smiley. »Bald sind Sie hier weg.« Auf der Fahrt hierher hatte er versucht, an Prideaux und Irina und an die tschechischen Netze zu denken, und er hatte sogar Haydons Zimmer noch mit einem vagen Gefühl öffentlicher Verantwortung betreten: irgendwie, dachte er, müßte er ihn im Namen aller Rechtlichdenkenden verurteilen. Statt dessen kam er sich ziemlich schüchtern vor; er spürte, daß er Haydon über­haupt nie gekannt hatte, und jetzt war es zu spät. Er ärgerte sich auch über Haydons körperlichen Zustand, aber als er den Wachen Vorwürfe machte, bekundeten sie Verständnislosigkeit. Noch ärgerlicher wurde er, als er erfuhr, daß die zusätzlichen Sicher­heitsmaßnahmen, auf denen er bestanden hatte, nach dem ersten Tag gelockert worden waren. Als er Craddox, den Leiter der Nursery, zu sprechen verlangte, war Craddox unabkömmlich und sein Assistent stellte sich dumm. Die Unterhaltung war stockend und banal.

Ob Smiley so freundlich sein wolle, die Post aus seinem Club nachzuschicken und Alleline zu bestellen, er möge seinen Kuh­handel mit Karla ein bißchen beschleunigen? Und er benötige Taschentücher, Papiertaschentücher für seine Nase. Daß er stän­dig weine, erläuterte Haydon, habe nichts mit Reue oder Schmerz zu tun, es sei eine rein physische Reaktion auf das, was er die Verbohrtheit der Inquisitoren nannte, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, daß er, Haydon, die Namen weiterer Karla-Trabanten kenne, und sie unbedingt vor seinem Weggang erfahren wollten. Außerdem gebe es eine Richtung, die dafürhielt, daß Fanshaw von den Christ Church Optimates als Talentsucher sowohl für die Moskauer Zentrale wie für den Circus tätig ge­wesen sei. Dazu erklärte Haydon: »Ehrlich, was soll man mit solchen Eseln anfangen?« Trotz seines geschwächten Zustands ge­lang es ihm, den Eindruck zu vermitteln, daß er der einzige ver­ständige Mensch weit und breit sei. Sie machten einen Spaziergang, und Smiley stellte mit gelinder Verzweiflung fest, daß im ganzen Umkreis keine Wachen patrouillierten, weder bei Nacht noch bei Tag. Nach einer Runde bat Haydon, wieder in die Hütte zurückzugehen, wo er ein Fußbodenbrett losmachte und ein paar mit Hieroglyphen bedeckte Blätter hervorholte. Sie erinnerten Smiley wider Willen an Irinas Tagebuch. Er hockte sich aufs Bett und sortierte sie, und in dieser Haltung, dem trüben Licht, mit der langen Haarsträhne, die fast bis auf das Papier hing, hätte er wieder wie damals in den sechziger Jahren in Controls Büro herumlungern und irgendein wundervoll eingängiges und gänz­lich undurchführbares Projekt zum größeren Ruhme Englands entwickeln können. Smiley machte sich nicht die Mühe, irgend etwas niederzuschreiben, denn es war ihnen beiden völlig klar, daß ihr Gespräch ohnehin mitgeschnitten wurde. Der Bericht begann mit einer langen Rechtfertigung, von der Smiley sich später nur an ein paar Sätze erinnerte:

»Wir leben in einer Zeit, in der nur noch grundsätzliche Fragen Beachtung verdienen ...«

»Die Vereinigten Staaten sind nicht mehr in der Lage, ihre Revo­lution selber zu unternehmen ...«

»Die politische Potenz des Vereinigten Königreichs ist ohne jeg­liche Relevanz oder moralische Lebensfähigkeit in der Weltpo­litik ...«

Vielen dieser Behauptungen hätte Smiley unter anderen Gegeben­heiten zugestimmt: es war mehr der Ton als die Musik, was ihn abstieß. »Im kapitalistischen Amerika ist die Unterdrückung in einem Maß institutionalisiert, das nicht einmal Lenin hätte vorher­sehen können...«

»Der Kalte Krieg begann 1917, aber die schwersten Kämpfe liegen noch vor uns, denn Amerika wird von seinem Todesdelirium zu immer größeren Exzessen in anderen Ländern getrieben ...« Er sprach nicht vom Verfall des Westens, sondern von seinem Tod durch Habgier und Verstopfung. Er hasse Amerika zutiefst, sagte er, und Smiley nahm es ihm ab. Haydon sah ferner als er­wiesen an, daß die Geheimdienste der einzig reale Maßstab für die politische Gesundheit einer Nation waren, der einzige reale Ausdruck ihres Unterbewußtseins.

Schließlich kam er zu seinem eigenen Fall. In Oxford, sagte er, habe er aufrichtig rechts gestanden, und im Krieg sei es ziemlich belanglos gewesen, wo man gestanden habe, solange man gegen die Deutschen kämpfte.

Nach '45, sagte er, habe er sich eine Zeitlang mit Englands Rolle in der Welt zufriedengegeben, bis ihm nach und nach dämmerte, wie unbedeutend diese Rolle gewesen sei. Wie und wann das ge­schah, blieb ein Geheimnis. Er konnte nicht angeben, bei welcher Gelegenheit sein historisches Weltbild diesen schweren Schock erlitten hatte: er wußte nur, wenn England nicht mehr mit von der Partie sei, so werde sich der Fischpreis nicht um einen Penny ändern. Er hatte sich oft selber die Frage gestellt, auf welcher Seite er stehen werde, wenn die entscheidende Prüfung jemals käme; nach langem Überlegen hatte er sich schließlich eingestehen müssen: falls nur einer der beiden Monolithen die Schlacht ge­winnen sollte, würde ihm der Osten als Sieger lieber sein. »Es ist unter anderem auch ein ästhetisches Urteil«, erklärte er und blickte auf. »Natürlich zum Teil auch ein moralisches.«