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An seinen trockenen langen Fingern zählte Tarr gewissenhaft die Gründe auf: erstens, er hatte noch nie eine sowjetische Delegation gesehen ohne ein paar Gorillas, deren Aufgabe es war, die Jungens von den Fleischtöpfen fernzuhalten. Also, wie ging Boris ihnen Nacht für Nacht durch die Lappen? Zweitens gefiel ihm die Art nicht, wie Boris mit seinen Devisen herumwarf. Das war unnatürlich bei einem Sowjetfunktionär, behauptete er: »Er hat einfach keine verdammten Devisen. Und wenn er welche hat, kauft er Glasperlen für seine Squaw. Und drittens, es gefiel mir nicht, wie er log. Zu glattzüngig, um seriös zu sein.« Tarr wartete also im Angelika, und tatsächlich tauchte nach einer halben Stunde sein Mr. Hyde mutterseelenallein auf: »Er setzt sich und bestellt sich zu trinken. Sitzt nur da und trinkt wie so ein Mauerblümchen!«

Wiederum war Smiley der Empfänger von Tarrs sonnigem Charme: »Also was soll das Ganze, Mr. Smiley? Sie wissen, was ich meine? Ich habe ein Auge für die kleinen Dinge«, gestand er, noch immer zu Smiley gewandt. »Zum Beispiel, wie er saß. Glauben Sie mir, Sir, wenn wir selber dort gewesen wären, wir hätten uns nicht günstiger setzen können als Boris. Er hatte die Ausgänge und die Treppe im Auge, überblickte den Haupteingang und alles, was im Lokal vorging, er war Rechtshänder und hatte linker Hand Deckung durch eine Wand. Boris war ein Profi, Mr. Smiley, daran war überhaupt nicht zu zweifeln. Er wartete auf eine Verbindung, betreute einen Briefkasten, oder er hat absichtlich auf die Pauke gehauen und auf einen Gegenzug von einem Tölpel wie mir gewartet. Und hören Sie: einen kleinen Pinscher von einer Handelsdelegation zu verheizen, ist eine Sache. Aber sich mit einem vollausgebildeten Nahkampfspezialisten anzulegen, ist eine ganz andere, stimmt's Mr. Guillam?« Guillam sagte: »Seit der Umorganisierung haben die Skalpjäger nicht mehr den Auftrag, Doppelagenten zu fangen. Sie müssen unverzüglich an London Station weitergereicht werden. Die Jungens haben stehende Order, sie ist von Bill Haydon persönlich unterzeichnet. Wenn es nur im geringsten nach der Gegenseite riecht: Hände weg.« Er fügte, vielleicht nur für Smileys Ohr hinzu: »Der Lateralismus hat unserer Autonomie den Garaus gemacht.«

»Und ich habe schon früher mit Doppel-Doppelspielern zu tun gehabt«, bekannte Tarr im Tonfall der gekränkten Tugend. »Glauben Sie mir, Mr. Smiley, sie sind ein Natterngezücht.«

»Das glaube ich Ihnen«, sagte Smiley und rückte affektiert an seiner Brille.

Tarr telegrafierte an Guillam »kein Verkauf«, buchte einen Rückflug und ging einkaufen. Aber, da seine Maschine erst am Dienstag abging, dachte er, er könne inzwischen noch, bloß um sein Fahrgeld zu verdienen, in Boris' Zimmer einbrechen. »Das Alexandra ist eine ganz baufällige Bude, Mr. Smiley, in der Nähe der Marble Road, lauter Holzbalkone übereinander. Und die Schlösser, also Sir, die gehen von alleine auf, wenn sie einen nur kommen sehen.«

Daher stand Tarr nach kürzester Zeit in Boris' Zimmer, mit dem Rücken zur Tür, und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er stand noch immer dort, als ihn eine Frauenstimme schläfrig auf russisch vom Bett her anredete. »Es war Boris' Frau«, erklärte Tarr. »Sie weinte. Ich nenne sie einfach Irina, ja? Mr. Guillam hat alle Einzelheiten.« Smiley meldete bereits Einspruch an: »Frau war unmöglich«, sagte er. »Moskau hätte sie niemals beide gleichzeitig aus Rußland herausgelassen, sie hätten einen behalten und den anderen fortgeschickt.«

»Ehe nach dem Gewohnheitsrecht«, sagte Guillam trocken. »Inoffiziell, aber dauerhaft.«

»Es gibt heutzutage viele, die's auf die andere Tour machen«, sagte Tarr mit gemeinem Grinsen zu niemandem im besonderen und schon gar nicht zu Smiley, und Guillam warf ihm einen weiteren giftigen Blick zu.

Ricki Tarr erzählt, wie er einen schüchternen Fuß ins Land der Liebe setzte

Vom ersten Augenblick der Besprechung an hatte George Smiley eine undurchdringliche Buddha-Pose eingenommen, aus der ihn weder Tarrs Bericht noch Lacons und Guillams gelegentliche Zwischenbemerkungen aufzurütteln vermochten. Er saß zurückgelehnt, die kurzen Beine angewinkelt, den Kopf vorgereckt und die plumpen Hände vor dem ausladenden Magen gefaltet. Die Augen unter den überhängenden Lidern hatten sich hinter den dicken Brillengläsern geschlossen. Als einziges Zeichen von Unruhe polierte er von Zeit zu Zeit seine Brille am Seidenfutter der Krawatte, und sooft er das tat, hatten seine Augen einen verquollenen, nackten Blick, der jeden, der ihn in diesem Moment beobachtete, in leichte Verlegenheit setzte. Sein Einwand jedoch und der gekünstelte, nichtssagende Laut, den er auf Guillams Erklärung hin ausgestoßen hatte, wirkten nun auf die übrige Versammlung wie ein Signal und veranlaßte allgemeines Stühlescharren und Räuspern. Lacon meldete sich als erster: »George, was trinken Sie? Darf ich Ihnen einen Scotch geben oder sonstwas?« Er bot den Drink so fürsorglich an wie ein Aspirin gegen Kopfschmerz. »George, einen zum Aufwärmen, ja? Es ist schließlich Winter. Ein Schlückchen?«

»Ich bin ganz zufrieden, danke«, sagte Smiley. Er hätte gern eine Tasse Kaffee aus der Maschine gehabt, aber irgendwie fühlte er sich außerstande, darum zu bitten. Außerdem erinnerte er sich, daß Lacons Kaffee abscheulich war. »Guillam?« wandte Lacon sich an den nächsten. Nein; auch Guillam fand es unmöglich, von Lacon ein alkoholisches Getränk anzunehmen.

Tarr wurde nichts angeboten, und er fuhr in seiner Berichterstattung fort.

Er habe Irinas Anwesenheit gefaßt hingenomnen, sagte er. Ehe er ins Haus ging, hatte er sich einen Fluchtweg zurechtgelegt, und jetzt schritt er zur Tat. Er zog keine Kanone oder schlug sie mit der Hand auf den Mund oder dergleichen Humbug, wie er sich ausdrückte, sondern sagte, er sei gekommen, um mit Boris eine Privatangelegenheit zu besprechen, sie solle entschuldigen, aber er werde verdammt noch mal solange hier sitzenbleiben, bis Boris auftauche. In gutem Australisch, wie es einem erzürnten Autoverkäufer von dort unten anstand, erklärte er, er wolle sich zwar nicht in andrer Leute Angelegenheiten einmischen, aber er wolle verdammt sein, wenn er sich in einer einzigen Nacht sein Mädel und sein Geld stehlen lasse, von einem lausigen Russen, der für seinen Spaß nicht zahlen könne. Er steigerte sich in große Erbitterung, achtete jedoch darauf, leise zu sprechen, und dann wartete er, was sie tun würde. Und damit, sagte Tarr, fing die ganze Geschichte an. Er hatte Boris' Zimmer um elf Uhr dreißig betreten. Er ging um halb zwei, mit dem Versprechen, in der nächsten Nacht wiederzukommen. Inzwischen hatte die Situation sich völlig gewandelt: »Wir haben natürlich nichts Ungehöriges getan. Nur rein platonisch, ja, Mr. Smiley?«

Einen Augenblick schien es, als spielte dieses Geblödel auf Smileys kostbarste Geheimnisse an. »Ja«, bestätigte er schwach.

An Irinas Anwesenheit in Hongkong war nichts Ausgefallenes, und es war nicht einzusehen, daß Thesinger davon wissen mußte, erklärte Tarr. Sie war gelernte Textilverkäuferin: »Nebenbei, sie war bedeutend fähiger als ihr Alter, wenn ich ihn so nennen darf. Sie war keine Schönheit, ein bißchen blaustrümpfig für meinen Geschmack, aber sie war jung, und ihr Lächeln reizend, als sie zu weinen aufhörte.« Tarr malte ein Genrebildchen. »Sie war ein nettes Mädchen«, betonte er, als müsse er sie gegen eine Mehrheit verteidigen. »Als Mr. Thomas aus Adelaide in ihr Leben trat, war sie völlig am Ende vor Sorgen, was sie mit dem verteufelten Boris anfangen sollte. Für sie war ich der Engel Gabriel. Wem konnte sie von ihrem Mann erzählen, ohne damit die Hunde auf ihn zu hetzen? Sie hatte in der Delegation keine Freunde, auch zu Hause in Moskau hatte sie niemanden, dem sie vertrauen konnte, sagte sie. Niemand, der das nicht selber mitgemacht habe, könne je wissen, was es bedeute, eine zerbrochene Verbindung weiterzuführen, wenn man ständig unterwegs sei.« Smiley war wieder in tiefe Trance verfallen. »Ein Hotel nach dem anderen, eine Stadt nach der anderen, und nirgends dürfe man auch nur unbefangen mit den Einheimischen sprechen oder von einem Fremden ein Lächeln entgegennehmen, so hat sie ihr Leben beschrieben. Sie fand das einen recht erbärmlichen Zustand, Mr. Smiley, wofür Gott und alle Heiligen und die leere Wodkaflasche neben dem Bett als Zeugen herhalten mußten. Warum konnte sie nicht sein wie normale Menschen? fragte sie immer wieder. Warum konnte sie sich nicht der lieben Sonne freuen, wie alle anderen? Sie liebte Reisen, sie liebte fremde Kinder, warum konnte sie nicht ein eigenes haben? Ein Kind, das in der Freiheit zur Welt kam, nicht in der Gefangenschaft. Sie wiederholte ständig: In der Gefangenschaft geboren, freigeboren. >Ich bin ein fröhlicher Mensch, Thomas. Ich bin ein normales, umgängliches Mädchen. Ich mag die Menschen: warum muß ich sie betrügen, wenn ich sie liebe?< Und dann sagte sie, zu ihrem Unglück habe man sie schon vor langer Zeit für eine Arbeit bestimmt, die eine gefühllose alte Frau aus ihr mache und sie von Gott trenne. Deshalb habe sie auch einen Schluck trinken müssen und sich ausweinen müssen. Ihren Mann hatte sie inzwischen ganz vergessen, sie rechtfertigte sich nur noch für ihren Suff.«