Er hatte an irgend etwas gerührt, das war nicht zu übersehen; er hatte einen wunden Punkt berührt, denn Tarr blinzelte, warf einen argwöhnischen Blick auf Lacon, dann auf Guillam. Lacon, der erriet, worum es ging, ließ sofort ein Dementi los:
»Smiley weiß nur soviel, wie Sie ihm jetzt in diesem Zimmer berichtet haben«, sagte er. »Das stimmt doch, Guillam?« Guillam nickte bestätigend und beobachtete Smiley.
»Ich habe London das gleiche gesagt, was sie mir gesagt hat«, gab Tarr mürrisch zu, wie jemand, dem man eine besonders gute Geschichte gestohlen hat.
»In welchen Worten, ganz genau?« fragte Smiley. »Wenn Sie sich noch an den Wortlaut erinnern.«
>»Behauptet, weitere Informationen von höchster Bedeutung für Wohl des Circus zu besitzen, bisher ohne nähere Angaben.< Jedenfalls ganz ähnlich.«
»Danke. Haben Sie vielen Dank.« Sie warteten, bis Tarr fortfuhr.
»Ferner ersuchte ich den Chef von London Station, Mr. Guillam zu informieren, daß ich fündig geworden sei und mich nicht zum Spaß draußen rumtriebe.«
»Ist das geschehen?« fragte Smiley. »Mir hat niemand etwas gesagt«, sagte Guillam kalt. »Den ganzen Tag war ich dort und habe auf Antwort gewartet, aber am Abend war noch immer nichts da. Irina tat ihre Arbeit wie alle Tage. Darauf habe ich bestanden, verstehen Sie. Sie wollte einen kleinen Fieberanfall simulieren und im Bett bleiben, aber davon wollte ich nichts hören. Die Delegation sollte ein paar Fabriken auf Kaulun besichtigen, und ich sagte, sie solle hübsch mitzotteln und intelligent dreinschauen. Sie mußte mir schwören, nicht zu trinken. Ich wollte nicht, daß sie im letzten Moment eine Schau abzog, alles sollte bis zum Absprung normal wirken. Ich wartete bis zum Abend, dann stieß ich noch mal nach.« Smileys verschleierter Blick heftete sich auf das blasse Gesicht vor ihm.
»Sie bekamen natürlich Bestätigung?« fragte er. »>In Bearbeitung<. Sonst nichts. Ich habe die ganze verdammte Nacht wie auf Kohlen gesessen. Bei Tagesanbruch noch immer keine Antwort. Ich dachte: vielleicht ist die RAF-Maschine schon unterwegs. London macht's gründlich, dachte ich, knüpfen erst sämtliche Fäden, bevor sie mir grünes Licht geben. Ich meine, wenn man so weit von ihnen entfernt ist, muß man einfach glauben, daß sie's richtig machen. Was immer man von ihnen hält, daran muß man glauben. Und ich meine, ab und zu machen sie's tatsächlich richtig, stimmt's, Mr. Guillam?« Niemand kam ihm zu Hilfe.
»Ich habe mir Sorgen wegen Irina gemacht, verstehen Sie? Noch einen Tag, und sie würde schlappmachen. Endlich kam die Antwort. Es war überhaupt keine Antwort. Es war Verzögerungstaktik: >Teilen Sie uns mit, in welchen Abteilungen sie gearbeitet hat, die Namen früherer Kontakte und Bekannte innerhalb der Moskauer Zentrale, wie ihr jetziger Boß heißt, Eintrittsdatum in Zentrale. < Herrje, ich weiß nicht mehr, was noch alles. Ich setzte schnell eine Antwort auf, denn ich war für drei Uhr mit ihr verabredet, drunten an der Kirche . . .«
»An welcher Kirche?« Wieder Smiley.
»Englische Baptisten, Kennedy Road.« Zu jedermanns Erstaunen errötete Tarr aufs neue. »Sie ging so gern hinein. Nicht zum Gottesdienst, nur so'n bißchen rumschnuppern. Ich lungere am Eingang herum, aber sie kreuzt nicht auf. War das erste Mal, daß sie eine Verabredung nicht eingehalten hat. Unser Ausweich-Treff war drei Stunden später oben auf dem Hügel, danach jeweils zwei Minuten vor der vollen Stunde an der Kirche, bis es klappen würde. Falls sie in Schwierigkeiten wäre, würde sie ihren Badeanzug vors Fenster legen. Sie war eine leidenschaftliche Schwimmerin, ging alle Tage schwimmen. Ich rase zum Alexandra, kein Badeanzug. Ich mußte zweieinhalb Stunden totschlagen. Ich konnte nichts anderes mehr tun als nur warten.«
Smiley sagte: »Welchen Vermerk hatte das Telegramm der Zentrale an Sie?«
»Dringend.«
»Aber Ihres war ein Blitztelegramm.«
»Meine beiden waren Blitze.«
»Trug das Telegramm aus London eine Unterschrift?« Guillam schaltete sich ein: »Das ist nicht mehr üblich. Außenstehende haben immer mit London Station allgemein zu tun.«
»Hieß es >Persönlich entschlüsseln?«
»Nein«, sagte Guillam. Sie warteten, bis Tarr fortfuhr.
»Ich trieb mich in Thesingers Büro herum, aber dort erfreute ich mich keiner besonderen Beliebtheit, er hält nichts von Skalpjägern und er hatte eine große Sache auf dem chinesischen Festland laufen und fürchtete offenbar, ich würde dazwischenfunken.
Also setzte ich mich in ein Cafe, und dort fiel mir ein, ich könnte zum Flugplatz hinunterschauen. Es war nur ein Einfalclass="underline" wie man sich sagt, >eigentlich könnte ich ins Kino gehen<. Ich setzte mit der Fähre über, nahm ein Taxi und wies den Chauffeur an, zu fahren wie der Teufel. Dann hat es sich zu einer Art Panik ausgewachsen. Ich drängte mich an der Auskunft vor und fragte nach sämtlichen Flügen nach oder aus Rußland. Ich bin fast verrückt geworden, während sie die Fluglisten durchgingen, und habe die chinesischen Clerks angebrüllt, aber die letzte Maschine war bereits gestern gestartet, und die nächste ging an diesem Abend um sechs. Aber jetzt hatte mich diese Ahnung gepackt. Ich mußte Gewißheit haben. Wie stand es mit Chartermaschinen, mit außerplanmäßigen Flügen, Fracht-, Sondermaschinen? War seit gestern vormittag nichts, wirklich gar nichts nach Moskau abgeflogen? Dann rückt diese Kleine mit der Antwort heraus, eine der chinesischen Hostessen. Ich gefalle ihr, verstehen Sie. Sie tut mir einen Gefallen. Eine außerplanmäßige Sowjetmaschine war vor zwei Stunden gestartet. Mit nur vier Passagieren an Bord. Die Attraktion war eine kranke Frau gewesen. Eine Dame. Im Koma. Sie mußte auf einer Bahre zum Flugzeug gebracht werden, und ihr Gesicht war mit Bandagen umwickelt. In ihrer Begleitung waren zwei Krankenpfleger und ein Arzt. Das war die ganze Reisegesellschaft. Ich rief als letzte Hoffnung das Alexandra an. Weder Irina noch ihr sogenannter Ehemann waren offiziell abgereist, aber aus ihrem Zimmer kam keine Antwort. Das windige Hotel wußte nicht mal, daß sie fort waren.«
Vielleicht hatte die Musik schon eine ganze Weile gespielt, und Smiley hörte sie erst jetzt. Sie drang in Fetzen aus verschiedenen Teilen des Hauses zu ihm: eine Tonleiter auf der Flöte, ein Kinderlied von einem Bandgerät, ein beherztes intoniertes Geigensolo. Die zahlreichen Lacon-Töchter erwachten.
Ein russisches Tagebuch, das allen spanisch vorkommt
»Vielleicht war sie wirklich krank«, sagte Smiley sachlich, mehr zu Guillam als zu einem der anderen. »Vielleicht war sie wirklich im Koma. Vielleicht wurde sie von echten Pflegern weggebracht. Nach dem, wie sie sich anhört, war sie ziemlich durchgedreht, gelinde gesagt.«
Mit einem Seitenblick zu Tarr fügte er hinzu: »Schließlich waren zwischen Ihrem ersten Telegramm und Irinas Abflug erst vierundzwanzig Stunden vergangen. Bei diesem knappen Timing können Sie die Schuld kaum London in die Schuhe schieben.«
»Eben doch«, sagte Guillam und blickte zu Boden. »Es ist äußerst knapp, aber es funktioniert gerade, wenn jemand in London . . .« - sie warteten alle - »wenn jemand in London Dampf dahinter macht. Und in Moskau ebenfalls, natürlich.«
»Genau das habe ich mir auch gesagt, Sir«, sagte Tarr voll Stolz in Beantwortung von Smileys Argument, während er Guillams Einwurf ignorierte. »Meine Rede, Mr. Smiley. Immer mit der Ruhe, Ricki, sage ich mir, wenn du nicht verdammt aufpaßt, schießt du noch auf Gespenster.«
»Oder aber die Russen haben sie geschnappt«, fuhr Smiley unerbittlich fort. »Die Beschatter haben von Ihrer Affäre Wind gekriegt und sie aus dem Verkehr gezogen. Es wäre ein Wunder, wenn sie es nicht rausgekriegt hätten, so wie ihr beide euch benommen habt.«
»Oder sie hat es ihrem Mann gebeichtet«, gab Tarr zu bedenken. »Ein bißchen verstehe ich auch von Psychologie, Sir. Ich weiß, was zwischen Mann und Frau passieren kann, wenn sie sich überworfen haben. Sie will ihm weh tun. Um ihn zu reizen, eine Reaktion zu provozieren, dachte ich mir. >Soll ich dir sagen, was ich getan habe, während du auf deinen Sauftouren warst? < - so in dieser Art. Boris geht auf der Stelle hin und erzählt's den Gorillas, sie ziehen ihr eins über und schaffen sie nach Haus. Ich bin alle diese Möglichkeiten durchgegangen, Mr. Smiley, glauben Sie mir. Ich habe sie durchgearbeitet. Ehrenwort. So wie's jeder Mann macht, dem die Frau abhaut.«