Maulwürfe sind für die Zentrale sehr wertvoll, denn es dauert viele Jahre, bis man sie ansetzen kann, oft fünfzehn oder zwanzig. Die meisten englischen Maulwürfe wurden vor dem Krieg von Karla angeworben und waren aus dem gehobenen Bürgertum, sogar Aristokraten und Adelige, die ihre Herkunft verabscheuten und zu heimlichen Fanatikern wurden, weitaus fanatischer als ihre Kameraden aus der englischen Arbeiterklasse, die eher trag sind. Einige bewarben sich um Aufnahme in die Partei, als Karla sie abfing und mit einer Spezialaufgabe betraute. Andere kämpften in Spanien gegen den Franco-Faschismus, wo Karlas Talentsucher sie aufstöberten und sie zur Anwerbung an Karla weiterreichten. Manche wurden während des Krieges angeworben, als Rußland mit den Briten ein Zweckbündnis hatte eingehen müssen, manche danach, als sie enttäuscht waren, weil der Krieg dem Westen keinen Sozialismus gebracht hatte. < Hier bricht sie ab«, verkündete Tarr, ohne von seinem Manuskript aufzublicken. »Ich habe vermerkt: >bricht ab<. Wahrscheinlich ist ihr Alter früher als erwartet zurückgekommen. Die Tinte ist ganz verwischt. Gott weiß, wo sie das verdammte Ding versteckt hat. Vielleicht unter der Matratze.« Falls dies ein Scherz sein sollte, so mißlang er. »>Der Maulwurf, für den Lapin in London arbeitete, wurde unter dem Decknamen Gerald geführt. Er war von Karla angeworben worden und war Gegenstand strengster Geheimhaltung. Hilfsdienste bei Maulwürfen werden nur von Genossen mit erstklassiger Befähigung versehen, sagt Iwlow. Iwlow-Lapin war an der Botschaft scheinbar eine bloße Null und mußte sich auf Grund dieser untergeordneten Stellung viele Demütigungen gefallen lassen, zum Beispiel bei festlichen Anlässen mit Frauen hinter der Bar stehen, in Wahrheit hingegen war er ein wichtiger Mann, der geheime Adjutant von Oberst Gregor Viktorow, dessen Arbeitsname bei der Botschaft Poljakow lautet.<« Hier meldete Smiley sich ein einziges Mal zu Wort; er ließ sich den Namen buchstabieren. Wie ein Schauspieler, der mitten im schönsten Monolog unterbrochen wird, antwortete Tarr ungnädig: »P-O-L-J-A-K-O-W. Haben Sie's jetzt verstanden?«
»Ja, vielen Dank«, sagte Smiley mit unerschütterlicher Höflichkeit und in einem Ton, der eindeutig besagte, daß der Name für ihn keinerlei Bedeutung habe. Tarr fuhr fort:
»>Viktorow ist selber ein alter Hase und mit allen Wassern gewaschen, sagte Iwlow. Seine Tarnung ist Kulturattache, und in dieser Eigenschaft verständigt er sich mit Karla. Als Professor Poljakow organisiert er an britischen Universitäten und bei Gesellschaften Vorlesungen über kulturelle Probleme der Sowjetunion, aber nachts arbeitet er als Oberst Gregor Viktorow. Nach Anweisung Karlas aus der Zentrale instruiert er den Maulwurf Gerald und holt dessen Informationen ein. Zu diesem Zweck setzt Oberst Viktorow Kuriere ein, und der arme Iwlow war eine Zeitlang einer von ihnen. Aber nach wie vor wird der Maulwurf Gerald von Karla in Moskau unmittelbar kontrolliert.< Jetzt ändert es sich völlig«, sagte Tarr. »Sie schreibt nachts und ist entweder blau oder halbtot vor Angst - ein einziges Gefasel die ganze Seite über. Über Schritte auf dem Korridor und Seitenblicke, die die Gorillas ihr zuwerfen. Nicht übernommen, o. k., Mr. Smiley?« Und auf ein sparsames Nicken hin fuhr er fort: »>Die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz des Maulwurfs waren bemerkenswert. Schriftliche Berichte aus London an Karla wurden, auch wenn sie verschlüsselt waren, auseinandergeschnitten und durch getrennte Kuriere geschickt, andere waren unter der üblichen Botschaftskorrespondenz, nur mit Geheimtinte verfaßt. Iwlow erzählte mir, der Maulwurf Gerald habe zeitweise mehr Material geliefert, als Viktorow-Poljakow beim besten Willen bewältigen konnte. Vieles war auf unentwickelten Filmen, oft dreißig Rollen in einer Woche. Wenn der Behälter nicht auf eine bestimmte Art geöffnet wurde, war der Film verdorben. Anderes Material wurde vom Maulwurf bei streng geheimen Zusammenkünften mündlich geliefert und auf Spezialband aufgenommen, das nur über einen raffiniert konstruierten Apparat abgespielt werden konnte. Auch dieses Band wurde gelöscht, wenn man es dem Licht aussetzte oder auf einem falschen Gerät abzuspielen versuchte. Die Zusammenkünfte wurden von Fall zu Fall verabredet, immer anders, immer plötzlich, mehr weiß ich nicht, außer daß es sich um die Zeit handelte, als die faschistische Aggression in Vietnam ihren Höhepunkt erreicht hatte; in England hatten die reaktionären Kräfte wieder die Macht an sich gerissen. Auch daß, laut Iwlow-Lapin, der Maulwurf Gerald einen hohen Rang im Circus bekleidete. Thomas, ich sage dir dies alles, weil ich, seit ich dich liebe, alles Englische bewundere, dich am meisten. Ich mag nicht glauben, daß ein englischer Gentleman ein Verräter sein soll, obwohl ich es natürlich richtig finde, daß er sich für die Sache der Arbeiterklasse einsetzt. Auch fürchte ich für die Sicherheit eines jeden, der für den Circus arbeitet. Thomas, ich liebe dich, geh vorsichtig um mit diesem Wissen, es könnte auch dir schaden. Iwlow war ein Mann wie du, auch wenn sie ihn Lapin nannten . . .<« Tarr zögerte verschämt. »Am Ende kommt eine Stelle, wo ...«
»Lesen Sie«, brummte Guillam.
Tarr hob den Papierpacken leicht schräg an und las in der gleichen schleppenden Tonart weiter:
»>Thomas, ich sage dir alles auch deshalb, weil ich Angst habe. Als ich heute morgen aufwachte, saß er auf dem Bett und starrte mich an wie ein Irrer. Als ich zum Kaffee hinunterging, belauerten mich die Wächter Trepow und Nowikow wie Tiere, ihr Frühstück rührten sie kaum an. Sie waren bestimmt schon seit Stunden da, auch Awilow, ein Junge von der Außenstelle, saß bei ihnen. Hast du geplaudert, Thomas? Hast du ihnen mehr erzählt, als ich ahnen konnte? Jetzt begreifst du wohl, warum nur Alleline in Frage kommt. Mach dir keine Vorwürfe, ich kann erraten, was du ihnen erzählt hast. Im Herzen bin ich frei. Du hast nur meine schlechten Seiten zu sehen bekommen. Das Trinken, die Angst, die Lüge, in der wir leben. Aber tief in meinem Innern brennt ein neues und seliges Licht. Ich glaubte immer, die Geheimwelt sei ein hermetisch abgeschlossener Ort und ich sei für immer auf eine Insel von Halbmenschen verbannt. Aber Thomas, sie ist nicht abgeschlossen. Gott hat mir gezeigt, daß sie hier ist, inmitten der wirklichen Welt, in unserer Reichweite, und daß wir nur die Türen öffnen und hinaustreten müssen, um frei zu sein. Thomas, du mußt immer nach diesem Licht streben, das ich gefunden habe. Man nennt es Liebe. Jetzt werde ich dieses Buch zu unserem Versteck bringen und dort lassen, solange noch Zeit ist. Lieber Gott, ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Gott gewähre mir eine Freistatt in seiner Kirche. Erinnere dich: auch dort habe ich dich geliebt.<« Tarr war leichenblaß, und seine Hände, die das Hemd aufknöpften, um das Tagebuch wieder in die Ledertasche zu stecken, waren zittrig und feucht. »Es kommt noch ein Nachsatz«, sagte er. »Er lautet: >Thomas, warum weißt du nur noch so wenige Gebete aus deiner Kindheit? Dein Vater war ein großer und guter Mensch.< Wie ich schon sagte«, erläuterte er, »sie war verrückt.«