»Ellis war sein Arbeitsname.«
»Natürlich. So viele Skandale in letzter Zeit, man vergißt einfach die Details.« Unterbrechung. Schwingen des rechten Unterarms. Ausfall. »Und er war mit Haydon befreundet, nicht mit Ihnen?« erkundigte sich Lacon.
»Sie waren vor dem Krieg zusammen in Oxford.«
»Und während des Krieges und danach Stallgefährten im Circus.
Das berühmte Gespann Haydon-Prideaux. Mein Vorgänger sprach dauernd davon.« Er wiederholte: »Aber Sie standen ihm nie nah?«
»Prideaux? Nein.«
»Kein Vetter, meine ich?«
»In drei Teufels Namen«, japste Smiley.
Lacon wurde plötzlich wieder linkisch, aber irgendeine verbissene Absicht ließ ihn den Blick nicht von Smiley wenden. »Und es besteht kein emotionaler oder sonstiger Grund, der Sie veranlassen könnte, den Auftrag abzulehnen? Seien Sie ganz aufrichtig, George«, drängte er so besorgt, als wäre >aufrichtig sein< das letzte, was er sich wünschte. Er wartete einen Moment, dann warf er alle Bedenken beiseite: »Ich sehe eigentlich auch keinen Grund. Ein Teil unserer Person gehört wohl immer der Arbeit für die Öffentlichkeit, nicht wahr? Der Gesellschaftsvertrag hat seine zwei Seiten, das haben Sie gewiß schon immer gewußt. Und Prideaux ebenfalls.«
»Was soll das heißen?«
»Ja, du lieber Gott, er hat einiges abbekommen, George. Eine Kugel im Rücken gilt allgemein als ziemliches Opfer, nicht wahr, sogar in Ihrer Welt?«
Smiley stand allein am entfernten Ende der Koppel unter triefenden Bäumen und versuchte, seine Gefühle zu ergründen, während er um Atem rang. Wie ein altes Leiden hatte ihn der Zorn angefallen. Seit seinem Abtreten hatte er ihn verleugnet, alles gemieden, was ihn zum Ausbruch bringen könnte: Zeitungen, ehemalige Kollegen, Klatsch á la Martindale. Nachdem er ein Leben lang von seinem Verstand und seinem ernormen Gedächtnis gelebt hatte, widmete er sich nun hauptamtlich der Aufgabe des Vergessens. Er hatte sich gezwungen, wissenschaftliche Interessen zu pflegen, die ihm während seiner Dienstzeit im Circus hinlänglich als Zerstreuung gedient hatten, aber jetzt, in seiner Untätigkeit, waren sie nichts, absolut nichts. Er hätte laut schreien können: nichts!
»Verbrenn den ganzen Kram«, hatte Ann hilfsbereit vorgeschlagen und damit seine Bücher gemeint. »Zünde das ganze Haus an. Alles, nur nicht verschimmeln.«
Wenn sie mit »verschimmeln« resignieren meinte, dann hatte sie sein Bestreben richtig beurteilt. Er hatte versucht, ehrlich versucht, als er sich seinem, wie die Versicherungsprospekte es mit Vorliebe nannten, Lebensabend näherte, einen mustergültigen Rentier abzugeben; obgleich niemand, und am allerwenigsten Ann, ihm diese Mühe dankte. Sooft er am Morgen sein Bett verließ, sooft er es des Abends, meist allein, wieder aufsuchte, hatte er sich eingehämmert, daß er nicht unentbehrlich sei und es niemals war. Er hatte sich das Bekenntnis eingepaukt, daß er in jenen elenden letzten Monaten von Controls Amtsführung, als eine Katastrophe die andere jagte, die Dinge viel zu überspitzt gesehen hatte. Und wenn jetzt der alte Amtsadam in ihm rebellierte und sagte: du weißt, daß es mit dem Circus bergab ging, du weißt, daß Jim Prideaux verraten wurde; nun, hatte er erwidert, und wennschon? »Es ist schiere Eitelkeit, zu glauben, daß als einziger Mensch ein fetter, älterer Spion imstande wäre, die Welt zusammenzuhalten«, ermahnte er sich. Und bei anderen Gelegenheiten: »Ich habe noch nie gehört, daß irgendwer bei seinem Ausscheiden aus dem Circus keine unvollendete Arbeit zurückgelassen hätte.« Nur Ann weigerte sich, diesen Schluß anzuerkennen, zu dem er mit soviel Mühe gelangt war. Sie ereiferte sich sogar, wie nur Frauen sich über geschäftliche Dinge ereifern können, sie drängte ihn, umzukehren, seine Arbeit dort wieder aufzunehmen, wo er sie abgebrochen hatte, nicht unter billigen Argumenten vom Kurs abzugehen. Nicht daß sie etwas gewußt hätte, aber welche Frau hat sich jemals von einem Mangel an Wissen aufhalten lassen? Sie fühlte. Und verachtete ihn, weil er nicht in Übereinstimmung mit ihrem Fühlen handelte.
Und jetzt, genau in dem Moment, als er endlich so weit war, an sein eigenes Dogma zu glauben, ein Schritt, der ihm durch Anns Verliebtheit in einen stellenlosen Schauspieler nicht leichter gemacht wurde, was passiert jetzt? Die vollzählig versammelten Gespenster aus seiner Vergangenheit: Lacon, Control, Karla, Alleline, Esterhase, Bland und zu guter Letzt Bill Haydon persönlich stürmen in seine Zelle und teilen ihm strahlend mit, während sie ihn wieder zurück in den gleichen Garten zerren, daß alles, was er Eitelkeit genannt hatte, Wahrheit sei! Haydon, wiederholte er leise, denn er konnte sich nicht mehr gegen die Flut der Erinnerungen wehren. Schon der Name versetzte ihm einen Stoß. »Ich habe gehört, Sie und Bill hätten einst alles miteinander geteilt«, sagte Martindale.
Er starrte auf seine pummeligen Hände und sah, wie sie zitterten. Zu alt? Impotent? Angst vor der Jagd? Oder Angst vor dem, was er am Ende aufstöbern würde?
»Für das Nichttun gibt es immer ein Dutzend Gründe«, sagte Ann mit Vorliebe - es war tatsächlich eine treffliche Rechtfertigung vieler ihrer Seitensprünge. »Für das Tun gibt es nur einen Grund. Nämlich, daß man es will.« Oder muß? Ann würde das leidenschaftlich verwerfen: Zwang, würde sie sagen, ist nur ein anderes Wort für »tun, was man will«; oder für »nicht tun, wovor man sich fürchtet«.
Mittlere Kinder weinen länger als ihre Geschwister. Jackie Lacon lag an der Schulter ihrer Mutter, um ihren Schmerz und den verletzten Stolz zu beschwichtigen, und beobachtete den Aufbruch der Gäste. Zuerst zwei Männer, die sie noch nie gesehen hatte, der eine groß und schlank, der andere kurz und dunkel. Sie fuhren in einem kleinen grünen Lieferwagen weg. Niemand winkte ihnen nach, wie sie feststellte, oder sagte auch nur auf Wiedersehen. Dann fuhr ihr Vater in seinem Wagen weg und schließlich gingen ein schöner blonder Mann und ein kleiner fetter in einem viel zu großen Mantel zu einem Sportwagen, der unter den Birken geparkt war. Zuerst glaubte sie, mit dem Fetten müsse etwas nicht stimmen, er folgte dem anderen so langsam und mühselig. Aber als er sah, daß der schöne Mann ihm die Wagentür hielt, schien er aufzuwachen und fiel in einen schwerfälligen Trab. Aus unerfindlichen Gründen regte diese Szene sie von neuem auf. Eine Woge von Kummer erfaßte sie, und ihre Mutter konnte sie nicht trösten.
Peter Guillam folgt den Spuren eines »Maulwurfs« und findet die Jagd nicht ungefährlich
Peter Guillam war ein ritterlicher Mann, dessen bewußte Loyalität durch seine Gefühle der Zuneigung bestimmt wurde. Seine angeborene Loyalität gehörte seit vielen Jahren dem Circus. Sein Vater, ein französischer Geschäftsmann, hatte während des Krieges für Haydons reseau spioniert, während die Mutter, gebürtige Engländerin, geheimnisvollen Beschäftigungen mit Chiffren nachging. Guillam selber hatte bis vor acht Jahren, als Angestellter eines Transportunternehmens getarnt, seine eigenen Agenten in Französisch Nordafrika gehabt, ein ausgesprochenes Himmelfahrtskommando. Sein Netz flog auf, seine Agenten wurden gehenkt, und für ihn begannen die langen Jahre des gestrandeten Profis mittleren Alters. Er verrichtete in London Gelegenheitsarbeiten, manchmal für Smiley, leitete ein paar Inlandseinsätze, dirigierte ein Netz von Freundinnen, die, wie es im Fachjargon hieß, nicht rundgeschaltet waren, und als Allelines Clique ans Ruder kam, wurde er nach Brixton abgeschoben, vermutlich, weil er die falschen Beziehungen hatte, unter anderem Smiley. So hätte er bis vergangenen Freitag ganz entschieden seine Lebensgeschichte dargestellt. Seine Verbindung zu Smiley hätte er sich größtenteils für den Schluß aufgehoben. Guillam wohnte damals vorwiegend in den Londoner Docks, wo er unter den vereinzelten polnischen und russischen Matrosen, die er und einige Talentsucher aufgetan hatten, ein untergeordnetes Marinenetz zusammenstellte. Zwischendurch saß er immer wieder in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoß des Circus, tröstete ein hübsche Sekretärin namens Mary und war ganz zufrieden, abgesehen davon, daß keiner, der etwas zu sagen hatte, jemals seine Aktennotizen beantwortete. Wenn er das Telefon benutzte, war entweder besetzt, oder es meldete sich niemand. Er hatte gerüchtweise etwas von Schwierigkeiten gehört, aber es gab dauernd Schwierigkeiten. So war zum Beispiel allgemein bekannt, daß Alleline und Control einander in der Wolle hatten, aber darin bestand schon seit Jahren ihre Hauptbeschäftigung. Er wußte ferner, genau wie alle anderen, daß eine großangelegte Sache in der Tschechoslowakei geplatzt war und daß Jim Prideaux, der Chef der Skalpjäger, der älteste Tschechen-Spezialist und Bill Haydons lebenslanger Gefährte, angeschossen und erwischt worden war. Daher vermutlich das unüberhörbare Schweigen und die düsteren Mienen. Daher auch Bill Haydons rasender Zorn, der durchs ganze Haus seine Wellen schlug; wie Gottes Zorn, sagte Mary, der ausgewachsene Leidenschaften imponierten. Später hörte er die Katastrophe als »Operation Testify« bezeichnen. Testify, so sagte Haydon ihm später, sei die stümperhafteste Operation gewesen, die jemals ein alter Mann um seines welkenden Ruhmes willen angezettelt habe, und Jim Prideaux sei der Preis dafür.