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Er legte die Kamera zur Seite und ging wieder zum Safe. Im untersten Fach lag ein Packen Aufklärerberichte, mit Toby Esterhases Unterschrift versehen und mit dem Codewort Axt gestempelt. Sie enthielten die Namen und Tarnberufe der zwei- bis dreihundert identifizierten sowjetischen Geheimdienstagenten, die in London unter legaler oder halblegaler Tarnung tätig waren: Handel, Tass, Aeroflot, Radio Moskau, konsularischer und diplomatischer Dienst. Gegebenenfalls auch die Daten von Nachforschungen, die durch die Aufklärer angestellt worden waren und die Namen von Nebenstellen, wie man in dar Fachsprache solche Kontakte nannte, die im Zug einer Überwachung entdeckt und nicht unbedingt immer weiter verfolgt wurden. Die Berichte waren in einem jährlichen Hauptband mit monatlichen Ergänzungsbänden zusammengefaßt. Guillam studierte zuerst den Hauptband, dann die Ergänzungen. Um elf Uhr zwanzig verschloß er den Safe, rief über die direkte Leitung London Station an und verlangte Lauder Strickland von der Bankabteilung. »Lauder, hier Peter in Brixton, wie geht das Geschäft?«

»Ja, Peter, was kann ich für Sie tun?«

Kurz und bündig. Wir in London Station haben wichtigere Freunde, besagte der Tonfall.

Es handle sich darum, ein paar Moneten abzustauben, erklärte Guillam, und damit einen französischen diplomatischen Kurier einzukaufen, der offenbar zu haben war. Mit seiner demütigsten Stimme brachte er die Frage vor, ob Lauder wohl Zeit finden könnte, daß sie sich treffen und die Sache besprechen würden. Ob das Projekt von London Station freigegeben sei? wollte Lauder wissen. Nein, aber Guillam habe die Papiere bereits mit dem Pendelbus an Bill abgeschickt. Lauder Strickland wurde eine Spur zugänglicher. Guillam ließ nicht locker: »Die Sache hat ein paar kitzlige Aspekte, Lauder, ohne Ihren Grips werden wir nicht auskommen.«

Lauder sagte, er könne eine halbe Stunde für ihn erübrigen. Auf dem Weg ins West End lieferte er seine Filme in der unansehnlichen Drogerie Lark in der Charing Cross Road ab. Lark, wenn er es selber war, war ein sehr fetter Mann mit riesigen Fäusten. Der Laden war leer.

»Die Filme von Mr. Lampton, zum Entwickeln«, sagte Guillam. Lark nahm das Päckchen mit ins Hinterzimmer, und als er wiederkam, sagte er mit gurgelnder Stimme: »Alle in Ordnung«, und stieß einen Luftschwall aus, als rauchte er, was er aber nicht tat. Er brachte Guillam zur Tür und schloß sie hinter ihm. Wo mag George sie nur immer auftreiben? fragte er sich. Er hatte eine Packung Hustenpastillen gekauft. Jeder einzelne Schritt muß zu begründen sein, hatte Smiley ihm eingeschärft: Nehmen Sie stets an, daß Tobys Hunde vierundzwanzig Stunden am Tag auf Ihrer Fährte sind. Das ist schließlich nichts Neues, dachte Guillam; Toby Esterhase würde seiner eigenen Mutter die Hunde auf die Spur hetzen, wenn es ihm ein Schulterklopfen von Alleline einbrächte.

Von Charing Cross ging er zu Chez Victor zu einem Lunch mit seinem Vorturner Cy Vanhofer und einem Halunken, der sich Lorimer nannte und behauptete, seine Mätresse mit dem ostdeutschen Gesandten in Stöckholm zu teilen. Lorimer sagte, das Mädchen sei bereit, mitzuspielen, aber sie benötige die britische Staatsbürgerschaft und einen Haufen Geld, zahlbar bei der ersten Lieferung. Sie würde alles tun, sagte er: Die Post des Botschafters abfangen, Mikros in seine Räume pflanzen »oder ihm Glasscherben ins Badewasser streuen«, was ein Witz sein sollte. Guillam hielt Lorimer für einen Lügner, und er hätte gern gewußt, ob auch Vanhofer einer sei, aber er wußte nur zu gut, daß keiner von beiden darauf kommen würde, nach welcher Seite er tendierte. Er mochte das Lokal Chez Victor, konnte sich aber nicht erinnern, was er gegessen hatte, und als er den Vorplatz im Circus betrat, war ihm klar, daß er schrecklich aufgeregt war. »Hallo Bryant.«

»Freut mich, Sie zu sehen, Sir. Nehmen Sie doch Platz, Sir, nur einen Augenblick, Sir, vielen Dank«, sagte Bryant, alles in einem Atemzug, und Guillam ließ sich auf der Holzbank nieder und dachte an Zahnärzte und Camilla. Sie war eine ganz neue und ziemlich schillernde Erwerbung; alles war so schnell gegangen wie schon seit langem nicht mehr. Sie hatten sich bei einer Party kennengelernt, wo sie bei einem Glas Karottensaft allein in einer Ecke saß und über die Wahrheit sprach. Guillam setzte alles auf eine Karte und sagte, Ethik sei nicht seine starke Seite und ob sie nicht lieber einfach ins Bett gehen sollten? Camilla überlegte eine Weile ernsthaft; dann holte sie ihren Mantel. Seitdem hing sie in Guillams Wohnung herum, briet Nuß-Frikadellen und spielte Flöte.

Der Vorplatz sah schäbiger aus denn je. Drei alte Aufzüge, eine Holzbarriere, ein Werbeplakat für Mazawatee-Tee, Bryants verglastes Schilderhäuschen mit einem Bilder-aus-England-Kalender und mehrere bemooste Telefone.

»Mr. Strickland erwartet Sie bereits, Sir«, sagte Bryant, als er wieder auftauchte, und stempelte bedächtig auf einen rosa Zettel die Tageszeit auf: Vierzehn Uhr fünfundfünfzig, P. Bryant, Portier. Das Gitter des mittleren Aufzuges klapperte wie ein Bündel trockener Stecken.

»Zeit, daß das Ding mal geölt wird, wie?« rief Guillam, während er wartete, bis der Mechanismus in Gang kam.

»Wir haben schon x-mal angemahnt«, sagte Bryant und stieg in seine Lieblingsklage ein. »Sie rühren keinen Finger. Man kann nachfragen, bis man schwarz wird. Wie geht's der Familie, Sir?«

»Bestens«, sagte Guillam, der keine hatte.

»Freut mich«, sagte Bryant. Von oben sah Guillam den sahnefarbenen Kopf zwischen seinen Füßen verschwinden. Mary nannte ihn immer Erdbeer mit Vanille, fiel ihm ein: rotes Gesicht, weißes Haar und breiig.

Im Lift betrachtete er seinen Besuchsschein. »Berechtigt zum Betreten von LS«, lautete die erste Zeile. »Zweck des Besuches: Bankabteilung. Dieses Dokument ist vor Verlassen des Gebäudes zurückzugeben.« Und neben »Unterschrift des Besuchten« ein freier Platz.

»Tag, Peter. Begrüße Sie. Sie haben sich ein bißchen verspätet, aber das macht nichts.«

Lauder wartete an der Schranke, das ganze 1 Meter 80 hohe Nichts von ihm, mit weißem Kragen und voll heimlichen Stolzes, weil er aufgesucht wurde. Zu Controls Zeiten war diese Etage ein einziges Hin und Her geschäftiger Leute gewesen. Heute verschloß eine Schranke den Zutritt. Ein rattengesichtiger Portier prüfte eingehend seinen Besuchsschein.

»Du lieber Gott, seit wann haben Sie denn dieses Ungetüm?« fragte Guillam und blieb vor einem glänzenden neuen Kaffeeautomaten stehen. Ein paar Mädchen, die ihre Becher füllten, blickten auf und sagten: »Hallo, Lauder«, wobei sie Guillam anschauten. Die große erinnerte ihn an Camilla: das gleiche langsam glimmende Auge, das die männliche Unzulänglichkeit ächtete.

»Ach, Sie ahnen gar nicht, wie viele Mann-Stunden das einspart«, schrie Lauder plötzlich. »Phantastisch. Ganz phantastisch«, und hätte in seiner Begeisterung beinah Bill Haydon überrannt. Haydon war aus seinem Zimmer getreten, einem sechseckigen MG-Stand mit Blick über New Compton Street und Charing Cross Road. Er bewegte sich in der gleichen Richtung wie sie, aber im Tempo von einer halben Meile pro Stunde, was bei Bill innerhalb des Hauses Vollgas bedeutete. Im Freien verhielt er sich anders; Guillam hatte auch das gesehen, bei Übungsspielen in Sarratt und einmal bei einem nächtlichen Überfall in Griechenland. Im Freien war er flink und gewandt; das scharfgeschnittene Gesicht, das in diesem dumpfen Korridor fahl und verschlossen wirkte, schien unter freiem Himmel von den fernen Orten geprägt, an denen er gearbeitet hatte. Sie waren Legion: für Guillams bewundernde Augen gab es kein Einsatzfeld, das nicht irgendwo Haydons Siegel getragen hätte. Er war in seiner eigenen Karriere immer wieder den Spuren von Bills ungewöhnlicher Laufbahn begegnet. Vor ein paar Jahren, als er noch für den Marine-Geheimdienst arbeitete und unter anderem die Aufgabe hatte, ein Team von Küstenbewachern für die chinesischen Häfen Wentschou und Amoy zusammenzustellen, entdeckte Guillam zu seinem Erstaunen, daß es in beiden Städten noch chinesische Agenten gab, die Bill Haydon während irgendeines vergessenen Kriegseinsatzes rekrutiert, mit Geheimsendern und allem Zubehör ausgestattet hatte und mit denen man sich in Verbindung setzen konnte. Und ein anderes Mal, als er die Berichte über Himmelfahrtskommandos von Circus-Kämpfern während des Krieges durchging - weniger, weil er für die Gegenwart Wichtiges zu finden hoffte, als in wehmütigem Rückblick -, stieß Guillam zweimal innerhalb von zwei Minuten auf Haydons Arbeitsnamen: Im Jahr einundvierzig hatte er französische Fischkutter aus der Heiford-Bucht gefahren; im gleichen Jahr richtete er, mit Jim Prideaux als Sozius, Kurierstafetten quer durch Südeuropa ein, vom Balkan bis Madrid. Für Guillam gehörte Haydon jener einmaligen, aus sterbenden Circus-Generation an, zu der auch seine Eltern und Smiley gehörten - exklusiv und in Haydons Fall von blauem Blut. Aus einem einzigen Dasein, das er in unsteter Hast zubrachte, hatten sie in aller Gelassenheit ein Dutzend Leben gemacht, und noch heute, nach dreißig Jahren, verdankte der Circus ihnen seinen ersterbenden Hauch von Abenteuer.