Seine Unterredung mit Lauder Strickland dauerte eine Stunde und zwanzig Minuten. Guillam hatte sie nach Kräften in die Länge gezogen, und während der ganzen Zeit dachte er über Bland und Esterhase nach und fragte sich, was den beiden so sehr im Magen liegen mochte.
»Ich gehe jetzt wohl besser und kläre das Ganze mit dem Delphin«, sagte er schließlich. »Wir wissen ja, wie sie sich hat, wenn's um Schweizer Banken geht.« Die Personalabteilung hauste zwei Türen von der Bankabteilung entfernt. »Das lasse ich hier«, fügte er hinzu und warf den Paß auf Lauders Schreibtisch. Diana Dolphins Zimmer roch nach Deodorant; ihre Kettentasche lag auf dem Safe neben einer Nummer der Financial Times. Diana war eine jener modebewußten Circus-Bräute, die nie jemand wirklich heiratet. Ja, sagte er müde, die Unterlagen habe er London Station bereits eingereicht. Ja, er verstehe, daß das Herumwerfen mit schmutzigem Geld der Vergangenheit angehöre.
»Wir werden die nötigen Schritte unternehmen und Ihnen Bescheid geben«, verkündete sie, was heißen sollte, daß sie Phil Porteous fragen würde, der nebenan saß. »Ich werd's Lauder bestellen«, sagte Guillam und ging. Weiter, dachte er.
Bei »Herren« wartete er dreißig Sekunden am Waschbecken, beobachtete im Spiegel die Tür und horchte. Seltsame Stille hatte sich über das ganze Stockwerk gesenkt. Los, dachte er, du wirst alt, weiter. Er überquerte den Korridor, trat ungeniert ins Büro des Diensthabenden, knallte die Tür zu und sah sich um. Er schätzte, daß er zehn Minuten Zeit haben würde, und er schätzte, daß eine zugeknallte Tür weniger Lärm in dieser Stille verursachte als eine leise und verstohlen geschlossene Tür. Weiter. Er hatte die Kamera bei sich, aber das Licht war miserabel. Das Fenster mit der Netzgardine ging auf einen Innenhof voll geschwärzter Rohre. Er hätte keine hellere Glühbirne wagen können, selbst wenn er eine bei sich gehabt hätte, also strengte er sein Gedächtnis an. Seit dem Machtwechsel schien sich nicht viel verändert zu haben. Das Zimmer war tagsüber als Ruheraum für Damen bestimmt gewesen und war es wohl noch immer, nach dem billigen Parfümgeruch zu schließen. An einer Wand stand das Kunstledersofa, das nachts als Behelfslager diente; daneben der Erste-Hilfe-Kasten mit dem abblätternden roten Kreuz auf dem Deckel und ein aufgeklapptes Fernsehgerät. Der Stahlschrank stand noch am alten Platz zwischen dem Schaltbrett und den gesperrten Telefonen, und er ging straks darauf zu. Es war ein alter Schrank, er hätte ihn mit einem Dosenöffner aufgekriegt. Er hatte seine Dietriche und einiges Leichtmetallwerkzeug mitgebracht. Dann fiel ihm ein, daß die Kombination 312211 gelautet hatte, und er probierte sie, vier linksrum, drei rechtsrum, zwei linksrum, rechtsrum, bis er aufgeht. Die Scheibe war so ausgeleiert, daß sie ihre Tour von alleine lief. Als er die Tür öffnete, quoll eine Staubwolke hervor, kroch ein Stück am Boden entlang und entschwebte dann langsam zum dunklen Fenster. Im gleichen Augenblick hörte er einen Ton wie eine einzelne Note, die auf der Flöte gespielt wurde; wahrscheinlich hatte auf der Straße ein Auto gebremst; oder das Rad eines Aktenkarrens auf dem Linoleum gequietscht; aber für ihn war es in diesem Moment einer der langgezogenen klagenden Töne, aus denen Camillas Tonleiter-Übungen bestanden. Sie spielte, wann immer sie dazu Lust hatte. Um Mitternacht, frühmorgens, egal wann. Die Nachbarn konnten ihr gestohlen bleiben; sie schien überhaupt völlig skrupellos zu sein. Er erinnerte sich, wie sie an jenem ersten Abend gewesen war: »Welche Bettseite ist dir lieber? Wo soll ich meine Kleider hintun?« Er hielt sich einiges auf seinen Takt in solchen Dingen zugute, aber Camilla hatte dafür keinen Sinn, Technik war für sie bereits ein Kompromiß, ein Kompromiß mit der Wirklichkeit, sie würde sogar sagen, eine Flucht aus der Wirklichkeit. Na schön, dann hilf mir mal raus aus dem Salat hier.
Die Dienst-Tagebücher waren im obersten Fach, gebunden, die Daten klebten auf den Einbandrücken. Sie sahen aus wie Haushaltsbücher. Er nahm den Band »April« heraus und studierte die Namensliste auf dem Innendeckel, wobei er überlegte, ob er vom Kopierraum über dem Hof gesehen werden konnte, und wenn ja, würden sie stutzig werden? Er ging die Eintragungen durch, seine Suche galt der Nacht vom 10. zum 11. des Monats, in der die Codeverbindung zwischen London Station und Tarr angeblich stattgefunden hatte. Hongkong war zeitlich acht Stunden voraus: sowohl Tarrs Telegramm wie Londons erste Antwort waren in die Zeit außerhalb der Dienststunden gefallen. Vom Korridor kam plötzlich ein Stimmenschwall, und eine Sekunde lang glaubte er sogar, das humorlose Scherzen von Allelines schottisch gefärbtem Brummbaß herauszuhören, aber was er glaubte, war im Moment keinen Pfifferling wert. Er hatte sich eine Ausrede zurechtgelegt, und ein Teil seiner Person hielt sie bereits für wahr. Sollte er erwischt werden, so würde seine ganze Person sie für wahr halten, und falls die Inquisitoren in Sarratt ihn in die Zange nehmen würden, hatte er einen Helfer in der Not, er reiste niemals ohne. Dennoch packte ihn Entsetzen. Die Stimmen erstarben, und der Geist Percy Allelines mit ihnen. Schweiß rann ihm über die Rippen. Ein Mädchen trippelte vorbei und summte eine Melodie aus Hair. Wenn Bill dich hört, Mädchen, bringt er dich um, dachte er; wenn es etwas gibt, was Bill in Fahrt brachte, dann war es Summen. »Was haben Sie hier zu suchen, Sie Paria?«
Dann hörte er zu seiner flüchtigen Erheiterung tatsächlich Bills wütendes Gebrüll, das aus Gott weiß welcher Entfernung erscholclass="underline" »Schluß mit dem Gewinsel. Wer ist denn dieses Kamel?« Weiter. Sobald du stehenbleibst, kommst du nie mehr los; dieses Lampenfieber macht dich fertig, du vergißt deinen Text und läufst weg, deine Finger verbrennen, sobald du fündig wirst, und das Herz fällt dir in die Hosen. Weiter. Er stellte den April-Band zurück und nahm auf gut Glück Februar, Juni, September und Oktober heraus. Er blätterte sie rasch durch, suchte nach ähnlichen Fällen, stellte sie ins Fach zurück und ging in die Hocke. Wenn sich doch der Staub legen wollte, er schien unerschöpflich zu sein. Warum beschwerte sich niemand? Immer das gleiche, wenn viele Leute den gleichen Gegenstand benutzen: keiner ist verantwortlich, keiner schert sich einen Deut. Er suchte jetzt die Anwesenheitslisten der Nachtportiers. Er fand sie im untersten Fach, zwischen den Teebeuteln und der Dosenmilch: ganze Bündel, in großen Kuverts. Die Portiers füllten sie aus und brachten sie einem zweimal während der zwölfstündigen Dienstzeit: um Mitternacht und um sechs Uhr morgens. Man bestätigte ihre Richtigkeit, was praktisch unmöglich war, denn das Personal vom Nachtdienst war über das ganze Gebäude verstreut — zeichnete sie ab, behielt eine dritte Kopie und schmiß sie in den Stahlschrank, niemand wußte, warum. Das jedenfalls war das Verfahren vor der Sintflut gewesen und war es anscheinend auch jetzt noch.
Staub und Teebeutel im gleichen Fach, dachte er. Wann hat zum letztenmal jemand Tee gemacht?
Wiederum konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf den 10./11. April. Das Hemd klebte ihm an den Rippen. Was ist los mit mir. Herrgott, ich bin auf dem absteigenden Ast. Er blätterte vor und zurück, dann wieder vor, zweimal, dreimal, dann stellte er alles zurück und schloß den Schrank. Er wartete, lauschte, warf einen letzten besorgten Blick auf die Staubwolke und schritt dann kühn über den Korridor und zurück in die Geborgenheit von »Herren«.
Unterwegs fielen ihn die Geräusche an: »Wo ist der verdammte Wisch, ich hab ihn in der Hand gehabt«, und wieder dieses geheimnisvolle Flöten, aber es klang nicht mehr wie Camillas Spiel im Morgengrauen. Nächstes Mal bring' ich sie dazu, daß sie's tut, dachte er grimmig, ohne Kompromiß, Auge in Auge, wie das Leben sein sollte.
In »Herren« standen Spike Kaspar und Nick de Silsky Schulter an Schulter an den Waschbecken und flüsterten einander im Spiegel zu: Kuriere für Haydons sowjetisches Netz, seit Jahren im Haus und nur unter dem Namen »die Russen« bekannt. Als sie Guillam sahen, hörten sie sofort zu sprechen auf. »Hallo, ihr zwei! Herrgott, ihr seid wirklich unzertrennlich!« Sie waren blond und vierschrötig und sahen russischer aus als jeder Russe. Er wartete, bis sie weg waren, wusch sich den Staub von den Fingern und spazierte zurück in Lauder Stricklands Büro. »Du meine Güte, dieser Delphin redet wie ein Buch«, sagte er nonchalant.