»Ausgebildet und vom Erdboden verschwunden. Kann natürlich gestorben sein. Man neigt dazu, die natürlichen Ursachen zu vergessen.«
»Stimmt«, pflichtete Smiley bei. »Ja, das stimmt.« In einem langen Leben im Geheimdienst hatte er die Fertigkeit entwickelt, mit sorgsam geteilter Aufmerksamkeit zuzuhören; die vordergründigen Ereignisse direkt vor sich abrollen zu lassen, während eine zweite, völlig unabhängige Begabung die historische Verknüpfung herzustellen suchte. Der rote Faden lief über Tarr zu Irina, über Irina zu ihrem armen Geliebten, der so stolz darauf war, Lapin zu heißen und bei einem gewissen Oberst Gregor Viktorow zu dienen, »dessen Arbeitsname an der Botschaft Poljakow lautete«: In seiner Erinnerung waren diese Dinge gleichsam Teil einer Kindheit. Er würde sie nie vergessen. »Waren Fotos vorhanden, Connie? Haben Sie überhaupt Personenbeschreibungen an Land gezogen?«
»Von Bardin bei den Vereinten Nationen, selbstverständlich. Von Stokowsky möglicherweise. Wir hatten ein altes Zeitungsfoto aus seiner aktiven Soldatenzeit, aber wir konnten die Übereinstimmung nie völlig nachweisen.«
»Und vom spurlos untergetauchten Viktorow?« Es hätte jeder beliebige Name sein können. »Auch von ihm kein hübsches Bildchen?« fragte Smiley und durchquerte das Zimmer, um die Gläser frisch zu füllen.
»Viktorow, Oberst Gregor«, wiederholte Connie mit liebevollem zerstreutem Lächeln. »Hat wie ein Löwe bei Stalingrad gekämpft. Nein, ein Foto hatten wir nie. Schade. Es hieß, er sei mit Abstand der Beste gewesen.« Sie reckte sich: »Obwohl wir's natürlich bei den anderen nicht sicher wissen. Fünf Baracken und ein zweijähriger Kursus: mein Lieber, nach so vielen Jahren muß einiges mehr herausgekommen sein als drei Absolventen!« Mit einem kleinen Seufzer der Enttäuschung, der besagen sollte, daß an dem ganzen Bericht weiter nichts daran gewesen sei, ganz zu schweigen von der Person Oberst Gregor Viktorows, was ihn in seiner mühevollen Suche voranbringen könnte, schlug Smiley vor, daß sie sich dem damit in keinerlei Zusammenhang stehenden Phänomen Poljakow, Alexei Alexandrowitsch, von der Sowjetischen Botschaft in London, Connie besser bekannt als der liebe Alex Poljakow, zuwenden und herauszufinden suchen sollten, wie und wo er in Karlas Schema paßte und wieso man Connie verboten hatte, ihre Nachforschungen nach ihm fortzusetzen.
George Smiley stellt zerstreuten Blicks gezielte Fragen
Sie war jetzt viel munterer. Poljakow war kein Märchenheld, er war ihr lieber Alex, obwohl sie nie mit ihm gesprochen, ihn vermutlich nie in Person gesehen hatte. Sie hatte in einen Sessel neben der Leselampe übergewechselt, einen Schaukelstuhl, der gewisse Beschwerden linderte: sie konnte nirgends lang sitzen bleiben. Sie hatte den Kopf zurückgelegt, so daß Smiley das weiße Gewoge ihres Halses sehen konnte, eine der steifen Hände ließ sie kokett baumeln, während sie Indiskretionen bekannte, die sie nicht bedauerte. Dabei erschienen Smileys akkuratem Verstand ihre Spekulationen, gemessen an der klassischen Arithmetik des Nachrichtendienstes, sogar noch wilder als zuvor. »Ach, er war ja so gut«, sagte sie. »Sieben lange Jahre war Alex schon hier gewesen, ehe wir auch nur die kleinste Spur hatten. Sieben Jahre, mein Lieber.«
Sie zitierte seinen ersten Visa-Antrag vor jenen sieben Jahren: Poljakow, Alexei Alexandrowitsch, promoviert an der Staatsuniversität von Leningrad, stellvertretender Kulturattache im Rang eines Legationsrats zweiter Klasse, verheiratet, aber nicht von Ehefrau begleitet, geboren am dritten März neunzehnhundertzweiundzwanzig in der Ukraine als Sohn eines Transportarbeiters, Partei-Ausbildungsgang nicht angegeben. Ein Lächeln war in ihrer Stimme, als sie geläufig die erste Routinebeschreibung der Aufklärer hersagte: »Größe 1 Meter 79, robust, Augenfarbe grün, Haarfarbe schwarz, keine weiteren besonderen Kennzeichen. Fideler Riese von einem Kerl«, erklärte sie lachend. »Kolossaler Spaßvogel. Schwarze Tolle, hier über dem rechten Auge. Ganz bestimmt ein Popo-Kneifer, obwohl wir ihn nie dabei erwischt haben. Ich hätte ihm ein paar von unseren Popos angeboten, wenn Toby gespurt hätte, aber er wollte nicht. Nicht daß Alexei Alexandrowitsch auf so etwas hereingefallen wäre, wohlgemerkt. Alex war viel zu gerissen«, sagte sie stolz. »Hinreißende Stimme. Melodisch wie die Ihre. Ich habe die Bänder oft zweimal abgespielt, nur um ihm zuzuhören. Ist er wirklich noch im Lande, George? Am liebsten würde ich nicht danach fragen. Aus Furcht, sie könnten alle wechseln und ich würde sie nicht mehr kennen.« Er sei noch immer hier, versicherte ihr Smiley. Gleiche Tarnung, gleicher Rang.
»Und wohnt er noch immer in diesem gräßlichen kleinen Vorstadthaus in Highgate, das Tobys Beschatter so haßten? Meadow Close Nummer vierzig, oberster Stock. Eine schauderhafte Bude. Ich mag Männer, die ihre Tarnung wirklich leben, und Alex gehörte zu ihnen. Er war der emsigste Kulturmanager, den die Botschaft je gehabt hat. Wenn irgend etwas sofort benötigt wurde: Vortrag, Konzert oder was auch immer, Alex hat dem Amtsschimmel Beine gemacht.«
»Wie hat er das angestellt, Connie?«
»Nicht so, wie Sie denken, George Smiley«, sang sie, und das Blut stieg ihr ins Gesicht. »O nein. Alexei Alexandrowitsch war nur das, als was er sich ausgab, fragen Sie Percy Alleline oder Toby Esterhase. Rein wie frisch gefallener Schnee war er. Nicht einen Spritzer auf der Weste, das kann Toby Ihnen bestätigen!«
»He«, murmelte Smiley und füllte ihr Glas. »He, ruhig, Connie. Regen Sie sich ab.«
»Blödsinn«, schrie sie, keineswegs besänftigt. »Schierer ausgewachsener Blödsinn. Alexei Alexandrowitsch Poljakow war ein ehemaliger Klassenprimus bei Karla, wenn ich Augen im Kopf habe, aber sie wollten nicht auf mich hören! >Sie sehen schon Spione unterm Betts sagt Toby. >Die Aufklärer sind voll ausgelastet sagt Percy« — ihr schottischer Tonfall - »>Für Marotten haben wir hier keinen Platz. < Von wegen Marotten!« Jetzt weinte sie wieder. »Armer George«, sagte sie immer wieder. »Armer George, Sie wollten helfen, aber was konnten Sie tun? Sie waren selber auf der Abschußliste. O George, jagen Sie nicht mit den Lacons. Bitte tun Sie's nicht.« Behutsam geleitete er sie wieder zurück zu Alex, und warum sie so überzeugt war, daß er Karlas Spion war und aus Karlas Schule kam.
»Es war am Heldengedenktag«, schluchzte sie. »Wir haben seine Orden fotografiert, klarer Fall.«
Zurück zum Jahr eins, zum ersten Jahr ihrer Liebschaft mit Alex Poljakow. Das Seltsame war, sagte sie, daß sie vom ersten Augenblick seines Eintreffens ein Auge auf ihn geworfen hatte:
»Hallo, dachte ich. Mit dir werde ich bestimmt einigen Spaß haben.«
Warum eigentlich, wußte ich nicht. Vielleicht war es sein sicheres Auftreten, vielleicht sein strammer Gang, direkt vom Exerzierplatz: »Hart wie eine Nuß. Der Militär durch und durch.« Oder vielleicht seine Wohnung. »Er hat sich das einzige Haus in ganz London ausgesucht, an das die Aufklärer nicht auf fünfzig Schritt herankamen.« Oder vielleicht seine Arbeit: »Es gab bereits drei stellvertretende Kulturattaches, zwei von ihnen waren Gorillas, und der dritte tat nichts anderes, als die Blumen für den armen Karl Marx zum Highgate-Friedhof karren.«
Sie war ein bißchen benebelt, und er führte sie wieder im Zimmer herum und fing ihr ganzes Gewicht auf, wenn sie strauchelte. Also, sagte sie, zuerst war Toby Esterhase einverstanden, daß Alex auf die A-Liste kam, und die Aufklärer beschatteten ihn in unregelmäßigen Abständen, an zwölf von dreißig Tagen, und sooft sie ihm nachspürten, war er so rein wie frisch gefallener Schnee.
»Mein Lieber, man konnte meinen, ich hätte ihn angeklingelt und zu ihm gesagt: >Alex Alexandrowitsch, seien Sie auf der Hut, denn ich lasse Klein Tobys Hunde auf Sie los. Leben Sie also ausschließlich Ihre Tarnung und keine faulen Tricks! <« Er ging zu Begräbnissen, Vorträgen, spazierte im Park, spielte ein bißchen Tennis und hätte nicht respektabler sein können, fehlte nur noch, daß er Süßigkeiten an die Kinder verteilte. Connie kämpfte um weitere Beschattung, aber es war von Anfang an eine verlorene Schlacht. Die Maschinerie ging ihren schwerfälligen Gang, und Poljakow kam auf die B-Liste: nachzuprüfen alle sechs Monate oder je nach Arbeitsanfall. Die halbjährlichen Nachprüfungen ergaben nicht das geringste, und nach drei Jahren hatte er bei uns seinen Persilschein: Erschöpfend überprüft, Resultat: ohne Interesse für den Geheimdienst. Connie konnte nichts unternehmen, ja, sie hatte beinah schon begonnen, mit dieser Auflage zu leben, als eines prächtigen Novembertags der reizende Teddy Hankie ziemlich atemlos von der Laundry in Acton bei ihr anrief und sagte, Alex Poljakow habe seine Tarnung fallenlassen und endlich Farbe bekannt. Eine Farbe, die zum Himmel schrie.