So lebten sie drei Monate lang, und Guillam kannte Toby nicht besser als am ersten Tag. Er wußte nicht einmal, in welchem Land er geboren war. Er war ein Snob und wußte, wo man essen und sich zeigen mußte. Er wusch seine Sachen selber, und nachts trug er ein Netz über dem Schneewittchenhaar, und an dem Tag, als die Polizei in die Villa eindrang und Guillam über die rückwärtige Mauer springen mußte, fand er Toby im Hotel Bellevue, wo er Patisserien mampfte und dem the dansant zusah. Toby hörte sich an, was Guillam zu sagen hatte, zahlte seine Zeche, gab zuerst dem Kapellmeister ein Trinkgeld, danach Franz, dem Chefportier, dann führte er Guillam durch ein Gewirr von Korridoren und Treppenhäusern zu der unterirdischen Garage, wo er den Fluchtwagen und die Pässe versteckt hatte. Auch dort bat er gewissenhaft um die Rechnung. »Wer es je eilig hat, aus der Schweiz herauszukommen«, dachte Guillam, »der bezahle zuerst seine Rechnungen.« Die Korridore waren endlos, mit Spiegelwänden und Versailles-Kandelabern, so daß Guillam nicht einem Esterhase folgte, sondern einer ganzen Prozession. Dieses Bild stand ihm jetzt wieder vor Augen, obwohl das enge hölzerne Treppenhaus zu Allelines Büros schmutziggrün gestrichen war und nur ein verbeulter Pergamentschirm die Kandelaber ersetzte.
»Zum Chef«, verkündete Toby großspurig dem jungen Portier, der sie mit lässigem Nicken durchwinkte. Im Vorzimmer saßen an vier grauen Schreibmaschinen die vier grauen Mütter in Twinsets und Perlen. Sie nickten Guillam zu und übersahen Toby. Ein Schild an Allelines Tür besagte »Bitte nicht stören«. Daneben ein riesiger Schranksafe, neu. Guillam fragte sich, wie der Fußboden die Belastung aushalte. Obenauf Flaschen mit afrikanischem Sherry, Gläser, Teller. Mittwoch, fiel ihm ein: Zwangloses Lunch-Meeting in London Station.
»Ich möchte keine Telefonanrufe, sagen Sie's ihnen«, schrie Alleline, als Toby die Tür öffnete.
»Der Chef nimmt keine Anrufe entgegen, bitte, meine Damen«, sagte Toby gewählt und hielt Guillam die Tür. »Wir haben eine Besprechung.«
Eine der Mütter sagte: »Wir haben es gehört.« Es war Kriegsrat.
Alleline saß am obersten Ende des Tisches in dem geschnitzten überdimensionalen Lehnstuhl, er las ein zweiseitiges Dokument und regte sich nicht, als Guillam eintrat. Er knurrte nur: »Setzen. Neben Paul. Nach dem Salzfaß«, und las mit gesammelter Aufmerksamkeit weiter.
Der Stuhl rechts von Alleline war leer, und Guillam wußte, daß er Haydon gehörte, denn an die Lehne war eine Rückenstütze gebunden. Links von Alleline saß Roy Bland, gleichfalls lesend, aber er blickte auf, als Guillam vorbeiging, und sagte »Guck mal, Peter«, und die vorstehenden blassen Augen folgten ihm dem Tisch entlang. Neben Roy saß Mo Delaware, das weibliche Paradepferd von London Station, mit scharf gewelltem Haar und braunem Tweed-Kostüm. Neben ihr Phil Porteous, der Personalchef, ein reicher serviler Mensch mit einem großen Haus am Stadtrand. Als er Guillam sah, hörte er auf zu lesen, klappte ostentativ die Akte zu, legte die schlanken Hände darauf und feixte. »Nach dem Salzfaß heißt neben Paul Skordeno«, sagte Phil und feixte noch immer. »Danke. Ich seh's.«
Nach Porteous kamen Bills Russen, die er zuletzt bei »Herren« im vierten Stock gesehen hatte, Nick de Silsky und sein Busenfreund Kaspar. Sie konnten nicht lächeln, und soviel Guillam wußte, konnten sie auch nicht lesen, denn sie hatten als einzige keine Papiere vor sich liegen. Sie saßen da, hatten die vier dicken Hände auf dem Tisch liegen, als stünde jemand mit dem Gewehr hinter ihnen, und beobachteten ihn nur mit ihren vier braunen Augen.
Noch weiter bergab saß Paul Skordeno, angeblich Roy Blands Außenagent in den Satelliten-Netzen, es hieß aber auch, er arbeite zwischendurch für Bill. Paul war dünn und mies und vierzig, hatte ein narbiges braunes Gesicht und lange Arme. Guillam hatte ihn einmal bei einem Nahkampfkurs in der Nursery zum Partner gehabt, und sie hätten einander um ein Haar umgebracht. Guillam rückte seinen Stuhl ein Stück von ihm ab und setzte sich, Toby war also der nächste in der Reihe, wie die andere Hälfte eines Bewacherteams. Was zum Teufel glauben sie, daß ich tun werde? dachte Guillam: Einen wahnwitzigen Ausbruchsversuch unternehmen? Aller Augen waren auf Alleline gerichtet, der seine Pfeife stopfte, als Bill Haydon ihm die Schau stahl. Die Tür ging auf, und zunächst kam niemand herein. Dann hörte man ein langsames Schlurfen, und Bill erschien, eine Kaffeetasse in beiden Händen, obenauf die Untertasse. Er trug einen gestreiften Ordner unter den Arm geklemmt, und die Brille hatte er hochgeschoben, also mußte er vorher gelesen haben. Sie alle haben es gelesen, nur ich nicht, dachte Guillam, und ich weiß nicht, worum es geht. Er fragte sich, ob es das gleiche Dokument war, das Esterhase und Roy am Vortag gemeinsam gelesen hatten, und entschied ohne jeden Anhaltspunkt, daß dem so sei; daß es gestern gerade eingetroffen sei; daß Toby es zu Roy gebracht und daß er die beiden in ihrer ersten Begeisterung gestört habe; falls Begeisterung das rechte Wort war.
Alleline hatte noch immer nicht aufgeblickt. Vom unteren Tischende konnte Guillam nur das volle schwarze Haar und ein Paar breite tweedbedeckte Schultern sehen. Mo Delaware zupfte beim Lesen an ihrer Stirnlocke. Percy hat zwei Ehefrauen, erinnerte er sich, als Camilla aufs neue durch das Gewimmel seiner Gedanken geisterte, und beide waren Alkoholikerinnen, was gar nicht so einfach sein mußte. Er hatte nur das Londoner Exemplar kennengelernt. Percy baute damals gerade die Liga seiner Getreuen auf und hatte in seinem weitläufigen holzgetäfelten Apartment in Buckingham Palace Mansions eine Cocktailparty gegeben. Guillam kam zu spät und legte gerade in der Diele seinen Mantel ab, als eine blasse blonde Frau schüchtern auf ihn zuschwebte und beide Hände ausstreckte. Er hielt sie für das Mädchen, das ihm den Mantel abnehmen wollte. »Ich bin Joy«, sagte sie mit dramatischer Stimme, es klang wie »Ich bin die Tugend«, oder »Ich bin die Enthaltsamkeit«. Sie wollte nicht seinen Mantel, sondern einen Kuß. Als er sich ihrem Wunsch beugte, atmete er die vereinte Süße von Je reviens und einer hohen Konzentration billigen Sherrys ein.
»Ja, junger Herr Guillam«, - so Alleline - »haben Sie jetzt endlich Zeit für mich oder stehen noch weitere Erledigungen in meinem Haus an?« Er blickte halbwegs auf, und Guillam sah zwei winzige pelzige Dreiecke auf den verwitterten Wangen. »Was treiben wir denn zur Zeit draußen auf dem flachen Land?« - er blätterte um - »außer den Dorfjungfrauen nachstellen, falls es in Brixton welche geben sollte, was ich ernsthaft bezweifle, wenn Sie mir diese Frivolität verzeihen wollen, Mo, und öffentliche Gelder für opulente Mahlzeiten verschwenden?«
Dieses Anrempeln war Allelines Kommunikationsmethode. Es konnte freundschaftlich oder feindselig sein, vorwurfsvoll oder gutheißend, aber im Endeffekt war es wie der erste Tropfen auf die gleiche Stelle.
»Ein paar Arabergrüppchen sehen recht vielversprechend aus. Cy Vanhofer hat einen Draht zu einem deutschen Diplomaten. Das wär' alles.«
»Araber«, wiederholte Alleline, schob den Ordner beiseite und zog eine rustikale Pfeife aus der Tasche. »Jeder Idiot kann einen Araber umdrehen, was, Bill? Ein ganzes arabisches Kabinett für eine halbe Krone kaufen, wenn's ihm Spaß macht.« Aus einer anderen Tasche nahm Alleline einen Tabaksbeutel, den er lässig auf den Tisch warf. »Wie ich höre, sind Sie ein Herz und eine Seele mit unserem unlängst verblichenen Bruder Tarr. Wie geht's ihm heutzutage?«