Eine Unmenge Gedanken schossen Guillam durch den Kopf, während er sich antworten hörte. Daß die Beobachtung seiner Wohnung erst gestern abend aufgenommen worden war, durfte als sicher gelten. Daß er übers Wochenende frei von Kontrolle war, wenn nicht Fawn, der Babysitter, zum Verräter geworden war, was ein harter Schlag gewesen wäre. Daß Roy Bland eine auffallende Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Dylan Thomas hatte; Roy hatte ihn immer an jemanden erinnert, er war nur nie dahinter gekommen, an wen; und daß Mo Delaware nur dank ihres männlichen Pfadfinderinnen-Habitus die Bezeichnung Frau erworben hatte. Ob Dylan Thomas wohl auch Roys ungewöhnlich helle blaue Augen hatte? Daß Toby Esterhase eine Zigarette aus seinem goldenen Etui nahm und daß Alleline im allgemeinen keine Zigaretten duldete, nur Pfeifen, also mußte Toby sich im Moment recht gut mit ihm stehen. Daß Bill Haydon seltsam jung aussah und daß die Circus-Gerüchte über sein Liebesleben vielleicht doch nicht so lachhaft waren: sie behaupteten, er sei doppelseitig begabt. Daß Paul Skordeno eine braune Handfläche auf den Tisch gelegt und den Daumen leicht in die Luft gereckt hatte, als wolle er die Schlagwirkung des Handrückens vergrößern. Er dachte auch an seinen Segeltuchsack: hatte Alwyn ihn dem Bus mitgegeben? Oder war er zum Lunch weggegangen und hatte den Sack einfach in der Garderobe gelassen, wo jeder beförderungshungrige junge Portier die Nase hineinstecken konnte? Und Guillam fragte sich, nicht zum erstenmal, wie lange Toby wohl schon um das Archiv herumgestrichen sein mochte, ehe Guillam ihn gesehen hatte.
Er wählte einen scherzenden Tonfalclass="underline" »Stimmt, Chef, Tarr und ich trinken jeden Nachmittag bei Fortnum zusammen Tee.« Alleline nuckelte an der kalten Pfeife, befühlte die Tabakfüllung. »Peter Guillam«, sagte er mit wohlüberlegter Ironie. »Es ist Ihnen vielleicht entgangen, aber ich bin ein ungemein versöhnlicher Charakter. Ja, ich triefe geradezu vor Menschenfreundlichkeit. Ich will weiter nichts, als den Inhalt Ihrer Unterredung mit Tarr. Ich fordere weder seinen Kopf noch irgendeinen anderen Teil seiner verdammten Anatomie, und ich will den Impuls zügeln, ihn mit eigenen Händen zu erwürgen. Oder Sie.« Er riß ein Streichholz an und entzündete die Pfeife; eine gewaltige Flamme schlug hoch. »Ich würde mich vielleicht sogar bereitfinden, Ihnen eine goldene Kette um den Hals zu hängen und Sie aus dem verhaßten Brixton wieder in den Palast zu holen.«
»Wenn dem so ist, kann ich es gar nicht erwarten, bis er auftaucht«, sagte Guillam.
»Und Tarr soll freies Geleit haben, bis ich ihn zu fassen kriege.«
»Ich will's ihm sagen. Er wird begeistert sein.« Eine dicke Rauchwolke rollte über den Tisch. »Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, junger Peter, üblen Nachreden destruktiver und heimtückischer Art das Ohr zu leihen. Ich zahle Ihnen ehrliches Geld, und Sie fallen mir in den Rücken. Meiner Ansicht nach ein erbärmlicher Dank dafür, daß ich Sie am Leben erhalte. Gegen die dringenden Vorstellungen meiner Ratgeber, wie ich Ihnen sagen möchte.«
Alleline hatte sich eine neue Manieriertheit angewöhnt, eine, die Guillam oft bei eitlen Männern mittleren Alters beobachtete: Er packte eine Fleischtasche unter dem Kinn und massierte sie zwischen Daumen und Finger, in der Hoffnung, sie zu verkleinern. »Erzählen Sie uns doch noch etwas über Tarrs Lebensumstände«, sagte Alleline. »Etwas über seine Gemütsverfassung. Er hat eine Tochter, nicht wahr? Ein Töchterchen namens Danny. Spricht er manchmal von ihr?«
»Früher hat er's getan.«
»Ergötzen Sie uns mit ein paar Anekdoten über sie.«
»Ich kenne keine. Er hat sie sehr gern, mehr weiß ich nicht.«
»Wahnsinnig gern?« Die Stimme schwoll plötzlich vor Zorn.
»Was soll das Achselzucken bedeuten? Wie kommen sie plötzlich dazu, mich mit einem Achselzucken abspeisen zu wollen? Ich spreche mit Ihnen über einen Verräter aus Ihrer eigenen verdammten Abteilung, ich bezichtige Sie, mit ihm hinter meinem Rücken zu konspirieren, bei einem idiotischen Spielchen mitmischen zu wollen, wenn Sie nicht einmal wissen, wie hoch der Einsatz ist, und Sie zucken einfach die Achseln. Es gibt ein Gesetz, Peter Guillam, gegen die Zusammenarbeit mit Feindagenten. Vielleicht wußten Sie das nicht. Ich habe gute Lust, Sie unter Anklage zu stellen.«
»Aber ich war nicht mit ihm zusammen«, sagte Guillam, und jetzt kam ihm auch der Zorn zu Hilfe. »Ich bin nicht derjenige, der hier sein Spielchen spielt. Das sind Sie. Also lassen Sie mich in Frieden.«
Im gleichen Augenblick spürte er die Entspannung in der Tischrunde, wie ein fast unmerkliches Absinken in Langeweile, wie die allgemeine Erkenntnis, daß Alleline sein Pulver verschossen hatte und das Ziel unberührt geblieben war. Skordeno fummelte an einem Stückchen Elfenbein herum, einem Talisman, den er immer bei sich trug. Hand hatte seine Lektüre wieder aufgenommen, Bill Haydon trank seinen Kaffee und fand ihn abscheulich, denn er schnitt eine Grimasse zu Mo Delaware und setzte die Tasse ab. Toby Esterhase hatte das Kinn in die Hand gestützt, die Brauen gehoben, und starrte auf die Glut-Attrappe im victorianischen Kamin. Nur die Russen wandten auch weiterhin kein Auge von ihm, wie zwei Terrier, die nicht glauben wollten, daß die Jagd abgeblasen war.
»Er hat also mit Ihnen über Danny geplaudert, wie? Und Ihnen gesagt, daß er sie liebe«, sagte Alleline, der sich wieder den Dokumenten zugewandt hatte. »Wer ist Dannys Mutter?«
»Eine Eurasierin.«
Jetzt ergriff Haydon zum erstenmal das Wort. »Unverkennbar Eurasierin, oder könnte sie auch aus einer näher gelegenen Gegend stammen?«
»Tarr findet offenbar, sie sehe völlig europäisch aus. Die Kleine auch, findet er.«
Alleline las vor: »Zwölf Jahre alt, langes blondes Haar, braune Augen, schlank. Ist das Danny?«
»Ich würde sagen, sie könnte es sein. Hört sich so an.«
Lange Zeit herrschte Schweigen, und nicht einmal Haydon machte Miene, es zu brechen.
»Wenn ich Ihnen also sagte«, fuhr Alleline schließlich fort und wählte seine Worte mit äußerster Vorsicht, »wenn ich Ihnen sagte, daß Danny und ihre Mutter vor drei Tagen mit dem direkten Flug aus Singapur am Flughafen London hätten landen sollen, so dürfte ich annehmen, daß Sie ebenso perplex wären wie wir.«
»Ja, das wäre ich.«
»Und Sie würden darüber schweigen, nachdem Sie dieses Haus verlassen haben. Kein Wort, nicht einmal zu ihren zwölf allerbesten Freunden?«
Aus geringer Entfernung kam Phil Porteous' Schnurren: »Die Quelle ist strengstens geheim, Peter. Für Sie mag es sich anhören wie eine gewöhnliche Flugauskunft. Aber es ist ultra-ultra-ge-heim.«
»Aha, in diesem Fall will ich versuchen, meine Klappe ultra-geschlossen zu halten«, sagte Guillam zu Porteous, und während Porteous rot wurde, grinste Bill Haydon aufs neue wie ein Schuljunge.
Alleline kam wieder zum Thema. »Und wie würden Sie diese Information beurteilen? Los, Peter«, wieder der herausfordernde Ton, »los, Sie waren sein Boß, sein Führer, Philosoph und Freund, wo um Gottes willen bleibt Ihre Psychologie? Warum kommt Tarr nach England?«
»Davon haben Sie kein Wort gesagt. Sie sagten, Tarrs Frau und ihre Tochter Danny seien vor drei Tagen in London erwartet worden. Vielleicht will sie Verwandte besuchen. Vielleicht hat sie einen neuen Freund. Wie soll ich das wissen?«
»Stellen Sie sich doch nicht dumm, Mann. Leuchtet es Ihnen nicht ein, daß man dort, wo Danny ist, vermutlich nicht sehr weit nach Tarr zu suchen braucht? Wenn er nicht schon hier ist, was ich beinahe glauben möchte, denn im allgemeinen kommt der Mann zuerst und läßt die Troßweiber später nachkommen. Pardon, Mo Delaware, ist mir so herausgerutscht.«