Das Gedächtnis spielt einem erschöpften, überladenen Gehirn seltsame Streiche. Während Guillam fuhr und ein Teil seines bewußten Denkens auf die Straße gerichtet war und der andere sich mit zunehmend abstruseren Vermutungen über Camilla herumschlug, zogen Bilder aus diesem und anderen langen Tagen unkontrolliert durch seinen Kopf. Tage schieren Entsetzens in Marokko, als seine Agenten einer um den anderen ausfielen, und er bei jedem Schritt, der auf der Treppe hörbar wurde, ans Fenster stürzte und auf die Straße spähte; müßige Tage in Brixton, als er diese armselige Welt draußen vorbeigleiten sah und sich fragte, wann er wohl wieder zu ihr gehören werde. Und plötzlich lag der schriftliche Bericht wieder vor ihm auf dem Schreibtisch: auf Blaupause abgezogen, weil er überspielt worden war, Quelle unbekannt und wahrscheinlich unzuverlässig, und jedes Wort stand in fußhohen Lettern vor ihm:
Nach Aussage eines kürzlich aus Lubianka entlassenen Gefangenen hat die Zentrale Moskau im vergangenen Juli im Hinrichtungsblock eine geheime Exekution durchgeführt. Die Opfer waren drei ihrer eigenen Funktionäre. Eines war eine Frau. Alle drei wurden durch Genickschuß liquidiert. »Er trug den Stempel >international<«, sagte Guillam dumpf. Sie hatten auf einem Platz neben dem Rasthaus geparkt, das mit bunten Glühbirnen behängt war. »Irgendwer von London Station hatte daraufgekritzelt: Kann jemand die Toten identifizieren?« Im farbenfrohen Schein der Lichter sah Guillam, wie Smileys Gesicht sich vor Abscheu verzog.
»Ja«, bestätigte er schließlich. »Ja, die Frau war natürlich Irina, nicht wahr? Der eine war Iwlow und der andere war Boris, ihr Mann, nehme ich an.« Seine Stimme war ganz sachlich geblieben. »Tarr darf es nicht erfahren«, fuhr er energischer fort, als schüttelte er seine Müdigkeit ab. »Es ist wichtig, daß er nichts davon ahnt. Gott weiß, was er tun oder nicht tun würde, wenn er wüßte, daß Irina tot ist.« Eine Weile blieben beide regungslos sitzen, vielleicht fehlte beiden, wenn auch aus verschiedenen Gründen, die Kraft oder der Mut.
»Ich sollte telefonieren«, sagte Smiley, machte aber keinerlei Versuch, auszusteigen. »George?«
»Ich muß telefonieren«, murmelte er. »An Lacon.«
»Dann telefonieren Sie doch.« Guillam langte über ihn hinweg und öffnete die Tür.
Smiley kletterte aus dem Wagen, marschierte ein Stück über den geteerten Platz, dann schien er es sich anders überlegt zu haben und kam zurück.
»Kommen Sie, wir essen etwas«, rief er im gleichen zerstreuten Tonfall durchs Fenster. »Ich glaube, nicht einmal Tobys Leute würden uns hierher folgen.«
Es war früher ein Restaurant gewesen und jetzt ein Fernfahrer-
Cafe mit Resten vergangener Pracht. Die Speisekarte war in rotes Leder gebunden und voller Fettflecke. Der Junge, der sie brachte, schlief beinahe.
»Coq au vin soll angeblich eine sichere Sache sein«, sagte Smiley voll Galgenhumor, als er aus der Telefonzelle in der Ecke zurückkam. Und mit ruhigerer Stimme, die nicht weit trug und kein Echo auslöste: »Sagen Sie, wieviel wissen Sie über Karla?«
»Ungefähr soviel, wie ich über Witchcraft und die Quelle Merlin und all das weiß, was sonst noch auf dem Papier stand, das ich für Porteous unterzeichnet habe.«
»Aha, das ist zufällig eine ausgezeichnete Antwort. Sie war vermutlich als Vorwurf gedacht, aber zufällig war die Analogie äußerst treffend.« Der Junge erschien wieder, er schwang eine Flasche Burgunder wie eine Gymnastikkeule. »Lassen Sie sie bitte ein bißchen zu Atem kommen.« Der Junge starrte Smiley an wie einen Irren. »Machen Sie sie auf, und lassen Sie sie auf dem Tisch stehen«, sagte Guillam kurz.
Smiley erzählte nicht die ganze Geschichte. Später stellte Guillam verschiedene Lücken fest. Aber es genügte, um seine Lebensgeister aus den Niederungen zu befreien, in denen sie sich verfangen hatten.
Bei karger Kost berichtet George Smiley von seinem Versuch, Mr. Gerstmann das Leben zu retten
»Es gehört zum Beruf der Agentenführer, daß sie sich selber in Legenden verwandeln«, begann Smiley, fast als hielte er einen Vortrag vor Kursteilnehmern in der Nursery. »Sie tun dies zunächst, um ihre Agenten zu beeindrucken. Später probieren sie es bei ihren Kollegen und machen sich damit, nach meiner persönlichen Erfahrung, nur lächerlich. Manche gehen sogar so weit, daß sie es selber glauben. Das sind die Scharlatane, man muß sie so schnell wie möglich abstoßen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Dennoch, Legenden wurden geschaffen, und eine von ihnen war Karla. Sogar sein Alter war ein Geheimnis. Höchstwahrscheinlich war Karla nicht sein richtiger Name. Jahrzehnte seines Lebens lagen völlig im dunkeln und würden es wohl auch immer bleiben, denn die Leute, mit denen er arbeitete, hatten die Eigenheit, plötzlich zu sterben oder wie Gräber zu schweigen. »Es heißt, sein Vater sei in der Ochrana gewesen und später in der Tscheka aufgetaucht. Das mag stimmen, aber ich glaube es nicht. Andere Quellen wollen wissen, daß er als Küchenjunge in einem Panzerzug gegen die japanischen Besatzungstruppen im Osten gearbeitet habe. Angeblich hat er seine Technik von Berg gelernt - soll genau gesagt sein Lieblingsjünger gewesen sein -, was ungefähr so ist, als studierte ein junger Musiker bei.. ach, nehmen Sie irgendeinen großen Komponisten. Für mich begann seine Karriere im Jahr sechsunddreißig in Spanien, denn dafür haben wir Beweise. Er trat damals als weißrussischer Journalist bei den Franco-Leuten auf und rekrutierte eine Mannschaft deutscher Agenten. Es war eine höchst schwierige Operation und bemerkenswert für einen so jungen Mann. Dann begegnen wir ihm wieder bei der sowjetischen Gegenoffensive auf Smolensk im Herbst einundvierzig, als Abwehroffizier unter Konew. Er hatte die Aufgabe, Partisanennetze hinter den deutschen Linien zu führen. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er, daß sein Funker umgedreht worden war und Botschaften an den Feind funkte. Er drehte ihn wieder zurück und veranstaltete von da an ein Funkfeuerwerk, das ein heilloses Durcheinander stiftete.«
Auch dies sei ein Teil der Legende, sagte Smiley: Es sei Karlas Verdienst gewesen, daß die Deutschen bei Yelnia ihre eigene Front unter Beschuß nahmen.
»Und zwischen diesen beiden Auftritten«, fuhr er fort, »also zwischen sechsunddreißig und zweiundvierzig, besuchte Karla England, wir nehmen an, für ein halbes Jahr. Aber noch heute wissen wir nicht - das heißt, weiß ich nicht -, unter welchem Namen und welcher Tarnung. Was nicht heißen muß, daß Gerald es nicht weiß. Aber Gerald wird es uns kaum erzählen, jedenfalls nicht absichtlich.«
Smiley hatte noch nie so mit Guillam gesprochen. Er hielt nichts von Vertraulichkeiten oder langen Vorträgen; Guillam kannte ihn als einen bei aller Eitelkeit sehr schüchternen Menschen, der sich wenig von einem Meinungsaustausch versprach. »'48 wurde Karla, der seinem Land stets loyal gedient hatte, ns Gefängnis geschickt und anschließend nach Sibirien. Das Ganze hatte nichts mit seiner Person zu tun. Er gehörte nur zufällig zu einer der roten Abwehrgruppen, die der einen oder anderen Säuberungsaktion zum Opfer fielen.«
Und mit Sicherheit sei er, fuhr Smiley fort, nach Stalins Tod und seiner Rehabilitierung nach Amerika gegangen, denn als die indischen Behörden ihn im Sommer '55 unter dem vagen Vorwand eines Verstoßes gegen die Einwanderungsbestimmungen festgenommen hatten, war er gerade aus Kalifornien gelandet. Der Circus-Klatsch brachte ihn später mit den großen Hochverrats-Skandalen in England und den Vereinigten Staaten in Verbindung. Smiley wußte es besser: »Karla war wieder in Ungnade gefallen. Moskau lechzte nach seinem Blut, und wir dachten, wir könnten ihn jetzt auf unsere Seite bringen. Deshalb flog ich nach Delhi. Um mich mit ihm zu unterhalten.«