»Außerdem wußte ich aus den amerikanischen Observanten-Berichten, daß Gerstmann Kettenraucher war: Camels. Ich ließ ein paar Päckchen besorgen, und ich weiß noch, wie seltsam es mir vorkam, als ich dem Wärter Geld gab. Wissen Sie, ich hatte den Eindruck, Gerstmann sehe in der Aushändigung des Geldes von mir an den Inder etwas Symbolisches. Ich trug damals einen Geldgürtel. Ich mußte herumgrapschen und einen Geldschein aus einem Bündel ziehen. Unter Gerstmanns Blick fühlte ich mich wie ein fünftklassiger imperialistischer Unterdrücker.« Er lächelte. »Und das bin ich ganz gewiß nicht. Bill schon eher.
Auch Percy. Aber nicht ich.« Dann nahm er die Erzählung von neuem auf: »Ich fragte ihn also nach Mrs. Gerstmann.« - Er rief den Jungen herbei und sagte, nur um ihn aus dem Weg zu schicken: »Bringen Sie uns bitte Wasser. Eine Karaffe und zwei Gläser. Vielen Dank.«
»Ich fragte ihn, wo sie sich aufhalte. Eine Frage, die ich in bezug auf Ann liebend gern beantwortet wüßte. Keine Antwort, die Augen starr. Im Vergleich zu ihm wirkten die beiden Wärter rechts und links von ihm und ihre Augen lebhaft. Sie müsse ein neues Leben anfangen, sagte ich; eine andere Möglichkeit gebe es nicht. Ob er keinen verläßlichen Freund habe, der sich um sie kümmern könne? Vielleicht könnten wir es ermöglichen, uns heimlich mit ihr in Verbindung zu setzen? Ich wies ihn darauf hin, daß Mrs. Gerstmann mit seiner Rückkehr nach Moskau nicht im geringsten gedient wäre. Ich hörte mich selber sprechen, immer weiter, ich konnte nicht mehr aufhören. Vielleicht wollte ich auch nicht. Ich hatte ernsthaft daran gedacht, mich von Ann zu trennen, ich hielt den Augenblick für gekommen. Eine Rückkehr sei reine Don Quichotterie, sagte ich, ohne jeden praktischen Wert für seine Frau, ganz im Gegenteil. Sie würde geächtet werden; im günstigsten Fall würde man ihr erlauben, ihn vor seiner Erschießung noch kurz zu sehen. Wenn er dagegen mit uns gemeinsame Sache machte, könnten wir sie vielleicht austauschen; erinnern Sie sich, wir hatten damals große Vorräte, und einiges davon ging als Tauschware nach Rußland zurück; warum um alles in der Welt wir es allerdings zu diesem Zweck hätten verwenden sollen, geht über meinen Verstand. Bestimmt, sagte ich, würde sie ihn lieber sicher und gesund im Westen wissen als erschossen oder in Sibirien dem Hungertod ausgeliefert. Ich ritt auf dem Thema herum: sein Gesichtsausdruck ermutigte mich dazu. Ich hätte schwören können, daß ich zu ihm durchdringen würde, daß ich den Sprung in seiner Rüstung entdeckt hatte: während ich in Wirklichkeit - in Wirklichkeit nur ihm zeigte, wo meine Rüstung einen Sprung hatte. Und als ich Sibirien erwähnte, hatte ich eine wunde Stelle berührt. Ich spürte es wie einen Klumpen in meiner eigenen Kehle, ich spürte Gerstmanns Zurückschaudern. Wirklich kein Wunder«, kommentierte Smiley säuerlich: »schließlich war er noch vor kurzem ein Sträfling gewesen. Endlich kam auch der Wärter mit den Zigaretten, einem ganzen Arm voll, und ließ sie auf den Eisentisch klatschen. Ich zählte das Wechselgeld, gab ihm eine Belohnung, und fing dabei wiederum Gerstmanns Blick auf; ich bildete mir ein, Belustigung darin zu lesen, aber ich wußte, daß ich bereits nicht mehr in der Lage war, das zu beurteilen. Ich stellte fest, daß der Wärter mein Trinkgeld liegengelassen hatte; vermutlich haßte er die Engländer. Ich riß ein Päckchen auf und bot Gerstmann eine Zigarette an. >Na los<, sagte ich, >Sie sind doch Kettenraucher, das ist allgemein bekannt. Und Camels sind Ihre Lieblingsmarke. < Meine Stimme klang angespannt und albern, aber ich konnte es nicht ändern. Gerstmann stand auf und bedeutete den Wärtern höflich, daß er in seine Zelle zurückgebracht werden wolle.«
Bedächtig schob Smiley den halb leeren Teller zurück, auf dem sich weiße Fettflocken gebildet hatten wie Winterfrost. »Ehe er die Zelle verließ, überlegte er es sich anders; er nahm ein Päckchen Zigaretten und das Feuerzeug vom Tisch, mein Feuerzeug, ein Geschenk von Ann. >Für George in Liebe von Ann.< Normalerweise wäre es mir nicht im Traum eingefallen, ihn das Feuerzeug nehmen zu lassen; aber diese Situation war nicht normal. Ich fand es sogar durchaus angemessen, daß er ihr Feuerzeug nahm. Ich empfand es, Gott verzeih mir, als Ausdruck unserer Gemeinsamkeit. Er ließ das Feuerzeug und die Zigaretten in die Tasche seines roten Kittels fallen und hielt dann die Hände für die Fesseln hin. Ich sagte: > Zünden Sie sich gleich eine an, wenn Sie wollen.< Ich sagte zu den Wärtern: >Bitte lassen Sie ihn eine Zigarette anzünden.< Aber er machte keine Bewegung. >Es ist beabsichtigt, Sie morgen in die Maschine nach Moskau zu setzen, falls wir zu keiner Einigung gelangen<, fügte ich hinzu. Er überhörte es. Ich sah zu, wie der Wärter ihn hinausführte, dann kehrte ich in mein Hotel zurück, irgendwer fuhr mich hin, ich könnte bis heute nicht sagen, wer. Ich wußte nicht mehr, was ich empfand. Ich war verwirrter und kränker, als ich mir selber eingestehen wollte. Ich aß spärlich, trank zu viel und hatte hohes Fieber. Ich lag auf meinem Bett, schwitzte und träumte von Gerstmann. Ich wünschte mir sehnlichst, er möge bleiben. In meinem Fieberwahn hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, ihn zurückzuhalten, sein Leben neu zu gestalten, ihm wenn möglich zusammen mit seiner Frau eine Idylle zu schaffen. Ihn frei zu machen, ihn ein für allemal aus dem Krieg hereinzuholen. Ich wünschte mir verzweifelt, daß er nicht zurückgehen würde. Wieder blickte er mit dem Ausdruck der Selbstironie auf. »Was ich hier sage, Peter, bedeutet folgendes: Smiley, nicht Gerstmann hat in dieser Nacht seine Krisis durchgemacht.«