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Die beiden Briefe kamen gleichzeitig an, aber Jim kam zu spät, um den Umschlag an Majoribanks abzufangen, der als ahnungsloser Mitläufer an der Reihe war. So steckte Jim seinen eigenen Brief in die Tasche und stieß hinter seinem Daily Telegraph mißbilligende Töne aus, während Marjoribanks mit einem wütenden »Hol euch der Teufel« eine gedruckte Einladung zur Mitgliedschaft bei den Bibelforschern zerriß. Danach ließ er sich vom üblichen Tagesablauf mittragen, bis zum Rugby-Match der Unterklassen gegen Saint-Ermin, zu dem er als Schiedsrichter abgeordnet war. Es war ein schnelles Spiel, und als es zu Ende war, meldete sein Rücken sich wieder, also trank er Wodka, bis es Zeit fürs erste Läuten war. Er hatte versprochen, dies für den jungen Elwes zu übernehmen. Warum er das versprochen hatte, wußte er nicht mehr, aber die jüngeren Lehrer und besonders die verheirateten bedachten ihn gern mit allerlei kleinen Nebenarbeiten, und er ließ es sich gefallen. Die Glocke war eine alte Schiffsglocke, die Thursgoods Vater ausgegraben hatte und die jetzt zur Tradition gehörte. Als Jim sie läutete, sah er, daß der kleine Bill Roach direkt neben ihm stand und lächelte und um Aufmerksamkeit heischend zu ihm hochblickte, wie er es jeden Tag ein dutzendmal tat. »Hallo Jumbo, wo brennt's denn jetzt wieder?«

»Sir, bitte, Sir.«

»Los, Jumbo, raus mit der Sprache.«

»Sir, da will jemand wissen, wo Sie wohnen, Sir«, sagte Roach. »Was für ein Jemand, Jumbo? Los, ich beiß dich nicht, los, heh . . . heh! Was für ein Jemand? Mann? Frau? Juju-Mann? He! Los, alter Freund«, sagte er sanft und kauerte sich neben Roach nieder. »Kein Grund zum Heulen. Was ist los mit dir? Hast du Fieber?« Er zog ein Taschentuch aus seinem Ärmel. »Was für ein Jemand?« wiederholte er mit derselben leisen Stimme. »Er hat bei Mrs. McCullum gefragt. Er sagte, er sei ein Freund. Dann hat er sich wieder in sein Auto gesetzt, es steht im Kirchhof, Sir.« Ein neuer Tränenschwall. »Er sitzt einfach drinnen.«

»Schert euch doch zum Teufel!« schrie Jim ein Grüppchen älterer Schüler an, die grinsend unter der Tür standen. »Schert euch zum Teufel! Großer Freund?« Er wandte sich wieder an Roach. »Langer Schlaks, Jumbo? Dicke Augenbrauen, schlechte Haltung? Dünner Bursche? Bradbury. Komm mal her und hör auf zu gaffen! Hilf Jumbo rauf zu Matron bringen. Dünner Bursche?« fragte er wieder in gleichmütigem Ton.

Aber Roach hatte es die Sprache verschlagen. Er hatte kein Gedächtnis mehr, keinen Sinn mehr für Größe und Perspektive; sein Unterscheidungsvermögen in der Welt der Erwachsenen war fort. Große Männer, kleine Männer, alte, junge, krumme, gerade, sie waren nur noch ein Heer unerfindlicher Gefahren. Jims Frage mit Nein zu beantworten, war mehr, als er ertragen konnte; mit einem Ja würde er die ganze furchtbare Verantwortung für Jims Enttäuschung auf sich laden.

Er sah Jims Augen auf sich gerichtet, sah, wie das Lächeln erlosch, und dann fühlte er die rettende Berührung der großen Hand auf seinem Arm.

»Braver Jumbo. Keiner hat je so gut beobachtet wie du, was?« Bill Roach legte den Kopf verzagt auf Bradburys Schulter und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er durch die Tränen, daß Jim schon halbwegs die Treppe hinauf war.

Jim war ruhig, fast leicht zumute. Ganze vierzehn Tage lang hatte er gewußt, daß da jemand war. Auch das gehörte zu seiner Routine; die Plätze beobachten, wo die Beobachter ihre Fragen stellten. Die Kirche, wo über jeden Zu- und Weggang in der Gemeinde unbefangen geredet wird; das Rathaus, das Verzeichnis der Wähler. Geschäftsleute, falls sie die Kundenrechnungen aufhoben; Pubs, wenn die Gejagten sie nicht aufsuchten. Er wußte, daß dies in England die natürlichen Fallen waren, die die Observanten automatisch abklapperten, bevor sie über einem zuschnappten. Und so war es denn auch. Als Jim vor zwei Wochen einen netten Plausch mit einem Buchhändler hatte, stieß er auf die Spur, nach der er suchte. Ein Fremder, offenbar aus London, hatte sich nach Wahlkreisen erkundigt; ja, er war ein politischer Herr - nun, mehr so auf der Ebene politischer Erhebungen, ein Professioneller, das konnte man sehen, und unter anderem wollte er - man stelle sich das nur vor, jetzt - die neueste Aufstellung ausgerechnet von Jims Dorf - ja, die Wählerliste -, da sie erwogen, eine Fragebogen-Kampagne von Tür zu Tür in einer Gemeinde j.w.d., besonders bei neu Zugezogenen, zu starten - Ja, man stelle sich nur vor, stimmte Jim zu, und von da an traf er Vorkehrungen. Er kaufte Eisenbahn-Fahrkarten - Taunton nach Exeter, Taunton nach London, Taunton nach Swindon, gültig einen Monat - denn er wußte, wäre er mal wieder auf der Flucht, würde an Fahrkarten schwer heranzukommen sein. Er hatte seine alten Ausweise und sein Gewehr hervorgeholt und hielt sie - leicht greifbar - versteckt; er verstaute einen mit Kleidern vollgestopften Koffer im Gepäckraum des Alvis und sorgte für einen vollen Tank. Diese Vorsichtsmaßnahmen milderten seine Ängste etwas, ließen den Schlaf immerhin zu einer Möglichkeit werden, zumindest solange sein Rücken nicht schmerzte. »Sir, wer hat gewonnen, Sir?«

Prebble, ein Neuer, im Schlafrock und voll Zahnpasta, auf dem Weg zur Krankenstube. Manchmal sprachen die Jungen Jim ohne jeden Grund an, seine Größe und der Buckel reizten sie dazu. »Sir, das Match, Sir, gegen Saint-Ermin.«

»Sir, die ändern haben gewonnen, Sir«, bellte Jim. »Wie Sie selber wissen würden, Sir, wenn Sie zugesehen hätten, Sir«, schwang eine enorme Faust in einem langsamen Schattenboxhieb gegen die Jungen und schubste beide über den Korridor zu Matrons Arzneistube.

»Nacht, Sir.«

»Nacht, du Knallfrosch«, rief Jim und ging hinüber in den Krankenschlafsaal, um einen Blick auf die Kirche und den Friedhof zu werfen. Der Schlafsaal war unbeleuchtet, Jim haßte seinen Anblick und seinen Mief. Zwölf Jungen lagen im Dunkeln und dösten zwischen Abendbrot und Fiebermessen. »Wer ist das?« krächzte eine Stimme.

»Rhino«, sagte eine andere. »He, Rhino, wer hat gegen Saint-Ermin gewonnen?«

Es war ungehörig, Jim mit seinem Spitznamen anzusprechen, aber Jungen im Krankensaal fühlten sich von der Disziplin entbunden. »Rhino? Wer zum Teufel ist Rhino? Kenn ich nicht. Für mich kein Name«, schnaubte Jim und quetschte sich zwischen zwei Betten durch, »Weg mit der Taschenlampe, nicht gestattet. War ein verdammt leichter Sieg. Achtzehn zu null für die Ermins.« Das Fenster reichte fast bis zum Boden. Ein altes Kamingitter schütze es vor den Jungen. »Zu viel Gestümper in der Dreiviertellinie«, brummte er und äugte hinunter. »Ich hasse Rugby«, sagte ein Junge namens Stephen. Der blaue Ford stand im Schatten der Kirche, dicht unter den Ulmen. Vom Erdgeschoß aus wäre er nicht zu sehen gewesen, aber er wirkte nicht versteckt. Jim stand ganz still da, ein bißchen vom Fenster zurück, und inspizierte den Wagen nach verräterischen Zeichen. Das Tageslicht schwand bereits, aber er hatte gute Augen und wußte, wonach er Ausschau halten mußte: zweiter Innenspiegel für den Kurier, Brandstellen unter dem Auspuff. Als sie seine Spannung spürten, begannen die Jungen zu witzeln. »Sir, ist es eine Puppe, Sir? Taugt sie etwas, Sir?«

»Sir, brennt die Schule?«

»Sir, hat sie hübsche Beine?«

»Gosh, Sir, ist es wirklich Miss Aaronson?« Hier begannen alle zu kichern, denn Miss Aaronson war alt und häßlich. »Klappe halten«, schnappte Jim ärgerlich. »Haltet die Klappe, ihr Rübenschweine.« Drunten im Tagesraum verlas Thursgood die Anwesenheitsliste der Großen vor der Lernstunde. »Abercrombie? Sir. Astor? Sir. Blakeney? Krank, Sir.« Von seinem Beobachtungsposten aus sah Jim, wie die Wagentür aufging und George Smiley behutsam aus dem Wagen herauskletterte; er trug einen schweren Mantel.

Matrons Schritte hallten im Korridor. Er hörte das Quietschen ihrer Gummiabsätze und das Klappern der Fieberthermometer in einem Kleistertopf.

»Mein lieber Rhino, was tun Sie in meinem Krankensaal? Und schließen Sie den Vorhang, Sie böser Junge, sonst stirbt mir noch die ganze Bande an Lungenentzündung. William Merridew, aufsetzen, dalli!«