Jim war schon lange nicht mehr für diese Netze verantwortlich. Vor Jahren, ehe er Brixton übernahm, hatte er geholfen, sie aufzuziehen, er hatte einige der Gründungsmitglieder angeworben; inzwischen hatte sich mit ihnen in Blands und Haydons Händen eine Menge getan, wovon er nichts wußte. Aber er war überzeugt, noch immer genügend zu wissen, um sie beide himmelhochgehen zu lassen. Und am meisten bedrängte ihn die Furcht, daß Control oder Bill oder Percy Alleline oder wer immer zur Zeit das letzte Wort hatte, zu gierig oder zu langsam sein könnte, um die Netze rechtzeitig zu evakuieren, bis Jim unter einem Druck, über dessen Formen er nur Vermutungen anstellen konnte, nichts anderes mehr übrigbleiben würde, als vollständig zusammenzubrechen.
»Und jetzt kommt der Witz«, sagte Jim ohne den leisesten Anflug von Humor. »Die Netze waren ihnen scheißegal. Sie stellten mir ein halbes Dutzend Fragen über Aggravate, dann verloren sie jedes Interesse. Sie wußten verdammt gut, daß Testify nicht meines Geistes Kind war, und sie wußten auch darüber Bescheid, wie Control sich in Wien Stevcek gekauft hatte. Sie fingen genau dort an, wo ich enden wollte: mit dem Treffen in St. James. Sie fragten mich nicht nach einem Kurier, es interessierte sie nicht, wer mich zu der Verabredung mit dem Magyaren gefahren hatte. Sie wollten immer nur über Controls Theorie vom faulen Apfel reden.«
Das eine Wort, dachte Smiley wieder. Es ist vielleicht nur ein einziges Wort. Er sagte: »Kannten sie tatsächlich die St. James-Adresse?«
»Sie kannten die Marke von dem gräßlichen Sherry, Mann.«
»Und die Tabellen?« fragte Smiley rasch. »Die Notenmappe?«
»Nein.« Er fügte hinzu: »Anfangs nicht. Nein.« Umgestülptes Denken, nannte Steed Asprey das immer. Sie wußten das alles, weil der Maulwurf Gerald es ihnen gesagt hat, dachte Smiley. Der Maulwurf wußte, was die Personalabteilung aus dem alten Mac Fadean herausgeholt hatte. Der Circus schreitet zur Leichenöffnung. Karla kommt in den Genuß der Ergebnisse, früh genug, um sie gegen Jim einzusetzen.
»Ich nehme an, spätestens dann ist Ihnen aufgegangen, daß Control recht hatte: es gab einen Maulwurf«, sagte Smiley.
Jim und Smiley lehnten über einem Holzgatter. Vor ihnen fiel der Boden steil ab und ging in eine lange Kurve von Farnkraut und Feldern über. Unter ihnen lag noch ein Dorf, eine Bucht und ein dünner Streifen Meer, in Mondlicht getaucht. »Sie fackelten nicht lange und kamen direkt auf den Kern der Dinge. >Warum versuchte Control einen Alleingang? Was hoffte er zu erreichen?< >Sein Comebacks sagte ich. Sie lachten nur: >Mit wertlosen Informationen über militärische Verschiebungen um Brunn herum ?< Dafür könnte er sich nicht einmal einen schlichten Lunch in seinem Club kaufen. >Vielleicht glitten ihm die Fäden aus der Hand<, sagte ich. Wenn Control die Fäden verlor, meinten sie, wer trampelte ihm dann auf den Fingern herum? >Alleline<, sagte ich, >das war so das Geflüster. Alleline und Control konkurrierten miteinander bei der Beschaffung von Nachrichten. Aber in Brixton bekamen wir nur Gerüchte mit<, sagte ich. >Und was fördert Alleline zutage, was Control nicht tut?< >Weiß ich nicht.< >Aber Sie haben gerade gesagt, daß Alleline und Control bei der Nachrichtenbeschaffung miteinander konkurrierten !< >Das sind Gerüchte. Ich weiß es nicht.< Zurück ins Kühlhaus.«
»Das Zeitgefühl, sagte Jim, sei ihm in diesem Stadium bereits völlig abhanden gekommen. Er lebte entweder im Dunkel der Kapuze oder im weißen Licht der Zellen. Es gab weder Tag noch Nacht, und um es noch unheimlicher zu machen, wurde er fast ständig mit Geräuschen berieselt.
Sie bearbeiteten ihn nach dem Fließbandprinzip, erklärte er: keinen Schlaf, Befragung durch wechselnde Teams, Verwirrung, körperliche Gewaltanwendung, bis das Verhör für ihn zu einem zähen Wettlauf zwischen einem kleinen Dachschaden, wie er es nannte, und dem völligen Zusammenbruch geworden war. Natürlich hoffte er, der Dachschaden würde gewinnen, aber das hatte man nicht in der Hand, denn die anderen wußten allerlei Mittel, das zu verhindern. Eine Menge besorgte elektrischer Strom.«
»Es geht also wieder los. Neuer Kurs. >Stevcek war ein bedeutender General. Wenn er einen ranghöheren britischen Beamten anforderte, so durfte er erwarten, daß dieser Mann über alle Aspekte seiner Laufbahn informiert sein würde. Wollen Sie uns erzählen, Sie hätten sich nicht informiert?< >Ich sage doch, ich bekam meine Informationen von Control. < >Haben Sie Stevceks Akte im Circus gelesen?< >Nein. < >Hat Control sie gelesen?< >Das weiß ich nicht.< >Welche Schlüsse zog Control aus Stevceks zweiter Berufung nach Moskau? Hat Control mit Ihnen über Stevceks Rolle im Verbindungsausschuß zum Warschauer Pakt gesprochen?< >Nein.< Sie beharrten auf dieser Frage, und ich muß wohl auf meiner Antwort beharrt haben, denn nachdem ich noch ein paarmal >Nein< gesagt hatte, wurden sie ein bißchen ungehalten. Sie schienen die Geduld zu verlieren. Als ich ohnmächtig wurde, spritzten sie mich mit dem Schlauch ab und probierten's noch mal.«
Ortswechsel, sagte Jim. Sein Bericht war seltsam sprunghaft geworden. Zellen, Korridore, Auto . . . Am Flugplatz VIP-Abfertigung und eine Tracht Prügel vor dem Einstieg. Während des Fluges verlor er das Bewußtsein und erhielt seine Strafe dafür. »Bin wieder mal in einer Zelle zu mir gekommen, einer kleineren, ohne Tünche an den Wänden. Manchmal habe ich geglaubt, in Rußland zu sein; nach den Sternen hatte ich errechnet, daß wir nach Osten geflogen waren. Aber manchmal war ich wieder in Sarratt beim Abhärtungs-Training.«
Ein paar Tage lang ließen sie ihn in Ruhe. Sein Kopf war sehr wirr. Immer wieder hörte er die Schießerei im Wald, sah die Militärparade vor sich, und als schließlich die große Sitzung begann, die Marathonsitzung, trat er mit dem Handikap an, daß er sich bereits halb besiegt fühlte.
»Unter anderem einfach Frage der Gesundheit«, erklärte er nun sehr angespannt.
»Wir können eine Pause einlegen, wenn Sie wollen«, sagte Smiley. Aber dort, wo Jim war, gab es keine Pausen, und was er wollte, zählte nicht.
Dieses Verhör ging endlos, sagte Jim. Einmal erzählte er ihnen von Controls Notizen und seinen Tabellen und den farbigen Tinten und Buntstiften. Sie setzten ihm zu wie die Teufel, und er erinnerte sich an eine ausschließlich männliche Zuhörerschaft, die von der anderen Seite des Raums herüberlinste wie lauter verdammte Mediziner und miteinander tuschelte, und er berichtete von den Buntstiften nur, um das Gespräch in Gang zu halten und damit sie mit Fragen aufhörten. Sie hörten zu, aber sie hörten nicht auf.
»Sobald sie von den Farben wußten, wollten sie wissen, was die Farben bedeuteten. >Was bedeutete blau?< >Control benutzte kein Blau.< >Was bedeutete rot? Nennen Sie ein Beispiel für Rot auf der Tabelle. Was bedeutet rot? Was bedeutete rot?< Dann gehen alle hinaus, bis auf ein paar Wachen und einen kleinen, frostigen Burschen, stocksteif, schien der Chef zu sein. Die Wachen führen mich an einen Tisch, und der Kleine setzt sich neben mich wie so ein Zwerg, mit gefalteten Händen. Vor ihm liegen zwei Stifte, rot und grün, eine Tabelle von Stevceks Laufbahn.« Jim war nicht eigentlich zusammengebrochen, seine Phantasie war einfach erschöpft. Er konnte sich keine neuen Geschichten mehr ausdenken. Die Wahrheiten, die er so tief drinnen verschlossen hatte, waren das einzige, das sich noch anbot. »Und da haben Sie ihm von dem faulen Apfel erzählt«, sagte Smiley. »Und von Dame, König, As.«