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Der beiläufige, fast plaudernde Ton, in dem Smiley diese Theorien vorbrachte, fand in Jim kein Echo. Smiley wartete noch eine Weile vergebens, daß er freiwillig sprechen würde, dann ließ er das Thema fallen. »Kommen wir doch mal auf Ihren Empfang in Sarratt, ja? Um das Ganze abzurunden?«

In einem für ihn seltenen Augenblick der Vergeßlichkeit bediente er sich erst aus der Wodka-Flasche, bevor er sie Jim weiterreichte.

Nach seiner Stimme zu urteilen, hatte Jim jetzt genug. Er sprach rasch und zornig, militärisch schnarrend - seine Zuflucht vor intellektuellen Streifzügen.

Vier Tage lang war Sarratt die Zwischenstation gewesen: »Viel gegessen, viel getrunken, viel geschlafen. Um den Kricketplatz spaziert.« Er wäre auch geschwommen, aber der Swimming-pool wurde zur Zeit ausgebessert, wie schon vor einem halben Jahr: ein Saustall. Er wurde ärztlich untersucht, saß in seiner Hütte vor dem Fernsehapparat und spielte Schach mit Cranko, der das Pförtneramt versah.

Die ganze Zeit wartete er auf Control, der jedoch nicht auftauchte. Der erste, der ihn aus dem Circus besuchte, war der Rückführungsberater, der von einer hilfsbereiten Agentur für Lehrpersonen sprach, danach kam ein Scheich von der Zahlstelle, um mit ihm seinen Pensionsanspruch zu erörtern, dann nochmals ein Arzt, der ihn für ein Schmerzensgeld einstufte. Jim wartete, daß die Inquisitoren erscheinen würden, aber sie blieben aus, zu seiner Erleichterung, denn er hätte nicht gewußt, was er ihnen hätte sagen sollen, solange er von Control kein grünes Licht hatte, und außerdem hingen Fragen ihm nachgerade zum Hals heraus. Er vermutete, daß Control sie fernhielt. Es schien blödsinnig, daß er den Inquisitoren verschweigen sollte, was er bereits den Russen und den Tschechen erzählt hatte, aber was sollte er tun, solange er von Control nichts hörte? Als Control weiterhin schwieg, überlegte er, ob er nicht bei Lacon vorsprechen und ihm seine Geschichte erzählen solle. Dann kam er zu dem Schluß, daß Control wartete, bis die Nursery ihn freigab, ehe er sich mit ihm in Verbindung setzte. Ein paar Tage lang hatte er einen Rückfall, und als er vorbei war, erschien Toby Esterhase in einem neuen Anzug, scheinbar nur, um ihm die Hand zu schütteln und viel Glück zu wünschen. Aber in Wahrheit, um ihm zu sagen, wie die Dinge standen. »Verdammt komisch, ausgerechnet diesen Vogel herzuschicken, aber er schien die Treppe hinaufgefallen zu sein. Dann fiel mir ein, daß Control einmal gesagt hatte, man solle nur Leute von draußen verwenden.«

Esterhase berichtete ihm, daß der Circus durch Testify an den Rand des Untergangs geraten und daß Jim zur Zeit im Circus der Aussätzige Nr. 1 sei. Control sei nicht mehr im Spiel, und alles werde neu organisiert, um Whitehall zu besänftigen. »Dann sagte er, ich solle mir keine Sorgen machen«, sagte Jim. »Worüber keine Sorgen machen?«

»Über meine Sonderinstruktion. Er sagte, ein paar Leute kennen die wahre Geschichte und ich hätte keinen Grund, mir Sorgen zu machen, alles Nötige werde getan. Alle Tatsachen seien bekannt. Dann gab er mir tausend Pfund in bar, als Extrazulage zu meinem Schmerzensgeld.«

»Von wem?«

»Hat er nicht gesagt.«

»Hat er Controls Theorie über Stevcek erwähnt? Den Spion der Moskauer Zentrale innerhalb des Circus?«

»Die Tatsachen waren bekannt«, wiederholte Jim mit starrem Blick. »Er befahl mir, mit keinem Menschen Kontakt aufzunehmen und nicht zu versuchen, meine Geschichte zu Gehör zu bringen, denn es werde auf höchster Ebene alles Nötige unternommen, und alles, was ich tun würde, könne den entscheidenden Schlag vermasseln. Der Circus sei wieder im Lot. Ich könne Bube, Dame und das ganze verdammte Spiel vergessen: Maulwürfe, alles. >Mach Schluß<, sagte er. >Du bist ein Glückspilz, Jim<, sagte er immer wieder. >Du bist zum Lotos-Esser ausersehen.< Ich könne das Ganze vergessen, Ja? Vergessen. Einfach so tun, als wäre es nie passiert.« Er brüllte jetzt. »Und das hab' ich die ganze Zeit getan: Melde gehorsamst, alles vergessen!«

Die nächtliche Landschaft wirkte plötzlich wie unberührt; wie eine große Leinwand, auf die niemals etwas Böses oder Grausames gemalt worden war. Seite an Seite starrten sie über die Lichtbüschel hinweg ins Tal zu einer Felskuppe, die vor dem Horizont aufragte. Auf der Spitze stand ein einsamer Turm, und einen Augenblick lang bezeichnete er für Smiley das Ende der Reise. »Ja«, sagte er. »Ich habe mich auch ein bißchen mit Vergessen beschäftigt. Toby hat also tatsächlich Ihnen gegenüber Dame, Bube erwähnt. Wie ist er nur an diese Geschichte herangekommen, wenn nicht. . . Und von Bill keine Silbe?« fuhr er fort. »Nicht einmal eine Postkarte?«

»Bill war im Ausland«, sagte Jim kurz. »Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Toby.«

»Sie haben Bill also kein einziges Mal gesehen: seit Testify, Ihren besten Freund: Er ist verschwunden.«

»Sie haben doch gehört, was Toby sagte. Ich war tabu. Quarantäne.«

»Bill hat nie besonders viel für Vorschriften übrig gehabt, oder?«

sagte Smiley, wie in Erinnerung versunken.

»Und Sie haben nie besonders viel für Bill übrig gehabt«, bellte Jim.

»Tut mir leid, daß ich nicht da war, als Sie mich vor Ihrer Abreise in die Tschechoslowakei aufsuchten«, bemerkte Smiley nach einer kleinen Pause. »Control hatte mich nach Deutschland geschickt, damit ich ihm aus den Augen wäre, und als ich wiederkam - was hatten Sie eigentlich genau gewollt?«

»Nichts. Dachte, die Tschechoslowakei könnte ein bißchen haarig werden. Dachte, ich könnte vorbeischauen, mich verabschieden.«

»Vor einem Auftrag?« rief Smiley in gelinder Verwunderung. »Vor einem so ganz besonderen Auftrag?« Jim ließ durch nichts erkennen, daß er es gehört hatte. »Haben Sie sich von anderen auch verabschiedet? Wir waren wohl alle auswärts. Toby, Roy, Bill, haben Sie sich von Ihnen verabschiedet?«

»Von keinem.«

»Bill hatte Urlaub, nicht wahr? Aber er dürfte wohl trotzdem in der Nähe gewesen sein.«

»Von keinem«, beharrte Jim, als ein furchtbarer Schmerzanfall ihn zwang, die linke Schulter hochzuziehen und den Kopf abzuwenden. »Alle auswärts«, sagte er.

»Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Jim«, sagte Smiley im gleichen milden Ton, »daß Sie herumgehen und allen Leuten Pfötchen geben, ehe Sie einen wichtigen Auftrag ausführen. Es scheint, Sie werden sentimental auf Ihre alten Tage. Sie wollten . . .« er zögerte. »Sie wollten nicht einen Rat oder dergleichen, wie? Schließlich hielten Sie den Auftrag doch für eine Schnapsidee, nicht wahr? Und fanden, daß Control die Dinge nicht mehr recht im Griff hatte. Vielleicht glaubten Sie, Sie sollten eine dritte Person zuziehen? Denn ich gebe zu, das Ganze wirkte ziemlich verrückt.«

Die Fakten kennenlernen, sagte Steed Asprey immer, dann Geschichten probieren wie Kleider.

Jim verschanzte sich hinter wütendem Schweigen, und sie gingen zurück zum Wagen.

Im Motel zog Smiley zwanzig postkartengroße Fotos aus den Tiefen seines Überziehers und legte sie in zwei Reihen auf dem Keramiktisch aus. Einige waren Schnappschüsse, einige Porträtfotos; alle zeigten Männer, und keiner von ihnen sah wie ein Engländer aus. Jim verzog das Gesicht, fischte zwei davon heraus und gab sie Smiley. Beim ersten sei er ganz sicher, brummte er, beim zweiten weniger. Der erste war der Chef, der frostige Zwerg. Der zweite eins der Schweine, die im Schatten standen und zusahen, wie die Schläger Jim auseinandernahmen. Smiley steckte die Fotos wieder in die Tasche. Als er die Gläser zum Schlummertrunk füllte, hätte ein weniger gequälter Beobachter als Jim an ihm vielleicht eher eine Spur von Feierlichkeit als von Triumph bemerkt; als besiegelte dieses letzte Glas irgend etwas. »Also, wann haben Sie nun Bill zum letzenmal gesehen? Mit ihm gesprochen«, fragte Smiley, wie man sich eben nach einem alten Freund erkundigt. Er hatte Jim offenbar aus anderen Gedanken aufgescheucht, denn es dauerte eine Weile, ehe er den Kopf hob und die Frage begriff.