»Krank, Sir.«
Genau das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Der reichste Junge an der Schule hatte einen Nervenzusammenbruch wegen seiner nichtswürdigen Eltern, und der Vater drohte, ihn wegzuholen.
Toby Esterhase demonstriert die Kunst, gleichzeitig vor- und zurückzugehen, und Smiley macht sich Sorgen über Schatten auf seinen Wegen
Es war am gleichen Tag um vier Uhr nachmittags. >Sichere Häuser, die ich kannte<, dachte Guillam und sah sich in der düsteren Wohnung um. Er hätte über sie schreiben können, wie ein Handlungsreisender über Hotels schreiben könnte: von Fünfsterne-Spiegelhallen im Belgravia mit Wedgwood-Pilastern und vergoldeten Eichenblättern bis zu diesem Zweizimmerschuppen der Skalpjäger in Lexham Gardens, der nach Staub und Abflüssen roch und einen ein Meter hohen Feuerlöscher in der pechdunklen Halle hatte. Über dem Kamin tranken Kavaliere aus Zinnkrügen. Auf den gedrängten Tischen Muscheln als Aschenbecher, und in der grauen Küche anonyme Anweisungen »Unbedingt beide Gashähne schließen«. Er ging durch die Diele, als die Türglocke anschlug, auf die Sekunde pünktlich. Er nahm das Haustelefon ab und hörte Tobys verzerrte Stimme in die Hörmuschel krächzen. Er drückte auf den Türöffner und hörte das Klicken des Schlosses im Treppenhaus widerhallen. Er öffnete die Vordertür, ließ jedoch die Kette eingehakt, bis er sich überzeugt hatte, daß Toby allein war.
»Na, wie geht's uns?« sagte Guillam fröhlich und ließ ihn ein. »Ausgezeichnet, Peter«, sagte Toby und zog Mantel und Handschuhe aus.
Auf einem Tablett standen Tee und zwei Tassen. Guillam hatte alles vorbereitet. >Sichere Häuser< haben eine ganz bestimmte Aufmachung. Man gibt entweder vor, hier zu wohnen oder überall zu Hause zu sein; oder einfach an alles zu denken. In unserem Metier ist Natürlichkeit eine Kunst, dachte Guillam. Das war etwas, das Camilla nicht zu schätzen wußte. »Wirklich höchst sonderbares Wetter«, verkündete er, als hätte er eine meteorologische Studie angestellt. Sehr viel geistreichere Konversation wurde in >sicheren Häusern< nie betrieben. »Man geht ein paar Schritte und ist völlig erschöpft. Wir erwarten also einen Polen?« sagte er und setzte sich. »Einen Polen im Pelzhandel, von dem sie glauben, er könne für uns Kurierdienste leisten?«
»Muß jeden Moment kommen.«
»Kennen wir ihn? Ich habe von meinen Leuten unter seinem Namen nachsehen lassen, aber sie fanden keine Spur.«
»Die freien Polen haben ihn vor ein paar Monaten angelaufen, und er hat sofort das Weite gesucht. Dann hat Karl Stock ihn bei den Lagerhäusern aufgestöbert und gedacht, er könne den Skalpjägern nützlich sein.« Er zuckte die Achseln. »Mir hat er gefallen, aber was soll's? Wir haben nicht mal genug Arbeit für unsere eigenen Leute.«
»Peter, Sie sind sehr großzügig«, sagte Esterhase ehrerbietig, und Guillam hatte das lächerliche Gefühl, ihm ein Trinkgeld gegeben zu haben. Da klingelte es zu seiner Erleichterung an der Tür, und Fawn bezog seinen Posten am Eingang. »Tut mir leid, Toby«, sagte Smiley, von der Treppe ein wenig außer Atem. »Peter, wo soll ich meinen Mantel aufhängen?« Guillam drehte Toby um, hob ihm die Hände und legte sie flach an die Wand, dann durchsuchte er ihn nach einer Waffe, wobei er sich reichlich Zeit ließ. Toby hatte keine Waffe. »Ist er allein gekommen?« fragte Guillam. »Oder wartet ein lieber Freund auf der Straße?«
»Ich glaube, die Luft ist rein«, sagte Fawn.
Smiley stand am Fenster und blickte auf die Straße hinunter. »Würden Sie bitte kurz das Licht löschen?« bat er. »Warten Sie in der Diele«, befahl Guillam, und Fawn zog sich zurück; Smileys Mantel nahm er mit. »Was gesehen?« fragte Guillam und stellte sich neben Smiley ans Fenster. Der Londoner Nachmittag hatte bereits die verschleierten Rosa- und Gelbtöne des Abends angenommen. Der Platz war ein typisch victorianisches Wohnviertel. In der Mitte ein umzäunter Garten, der schon dunkel war. »Vermutlich nur ein Schatten«, sagte Smiley mit einem Knurren und wandte sich wieder Esterhase zu. Die Kaminuhr klimperte vier Schläge. Fawn mußte sie aufgezogen haben.
»Ich möchte Ihnen gern eine These vortragen, Toby. Eine Theorie über das, was zur Zeit vorgeht. Darf ich?« Esterhase zuckte nicht mit der Wimper. Die kleinen Hände ruhten auf den hölzernen Armlehnen seines Sessels. Er saß ganz bequem da, aber die Spitzen und Fersen seiner glänzend geputzten Schuhe waren wie in Habacht-Stellung geschlossen.
»Sie müssen überhaupt nicht sprechen. Zuhören ist doch kein Risiko, wie?«
»Möglich.«
»Gehen wir achtzehn Monate zurück. Percy Alleline möchte Controls Job, hat aber im Circus keinen guten Stand. Dafür hat Control gesorgt. Control ist krank und über die erste Blüte hinaus, aber Percy kann ihn nicht ausbooten. Erinnern Sie sich, wie es war?«
Esterhase nickte kurz.
»Wie es so ist in der toten Saison«, sagte Smiley mit seiner vernünftigen Stimme. »Draußen gibt's nicht genügend zu tun, also fangen wir an, innerhalb der Dienststelle zu intrigieren, einer spioniert gegen den anderen. Eines Morgens sitzt Percy in seinem Büro und hat nichts zu tun. Auf dem Papier ist er zum Einsatzleiter ernannt, aber in Wahrheit ist er höchstens ein Puffer zwischen den regionalen Abteilungen und Control. Percys Tür geht auf, und jemand kommt herein. Wir wollen ihn der Einfachheit halber Gerald nennen. >Percy<, sagt er, >ich bin auf eine bedeutende russische Quelle gestoßen. Könnte eine Goldmine sein.< Oder vielleicht sagt er gar nichts, bis sie das Dienstgebäude verlassen haben, denn Gerald ist vorwiegend ein Außenmann, von Wänden und Telefonen umgeben spricht er nicht gern. Vielleicht machen sie einen Spaziergang im Park oder eine Autofahrt. Vielleicht gehen sie irgendwohin essen, und in diesem Stadium kann Percy nicht viel mehr tun als zuhören. Percy hatte wenig Erfahrung auf dem europäischen Sektor, noch viel weniger auf dem tschechischen oder auf dem Balkan. Er hat sich seine Sporen in Südamerika verdient und anschließend die früheren Kolonien bearbeitet: Indien, den Vorderen Orient. Osteuropa ist für Percy fast ein Buch mit sieben Siegeln ... Er weiß nicht viel über Russen oder Tschechen oder dergleichen, für ihn ist rot ganz einfach rot und damit punktum. Unfair?«
Esterhase schürzte die Lippen und runzelte leicht die Stirn, als wolle er sagen, daß er niemals über einen Vorgesetzten urteile. »Gerald hingegen ist Fachmann auf diesem Gebiet. Während seiner Einsatz-Zeit hat er sich ständig an den östlichen Märkten herumgetrieben. Für Percy ist das Ganze Neuland, aber höchst verlockend. Gerald steht auf vertrautem Boden. Diese russische Quelle, sagt Gerald, könne die ergiebigste sein, die der Circus seit langem hatte. Gerald möchte nicht zu viel sagen, aber er erwartet in den nächsten Tagen ein paar Proben, und die solle Percy sich dann genau ansehen, um sich ein Bild von der Qualität zu machen. Über die Quelle im einzelnen könnten sie später sprechen. >Aber warum ich?< sagt Percy. >Worum geht es eigentlich ?< Gerald sagt es ihm also. >Percy<, sagt er. >Ein paar von uns in den regionalen Abteilungen sind schon ganz krank wegen der Höhe der Einsatzverluste. Ein böser Geist scheint umzugehen. Es wird zuviel geschwatzt, innerhalb und außerhalb des Circus. Zu viele Leute haben Einsicht in die Akten. Unsere Außenagenten werden an die Wand gestellt, unsere Netze aufgerollt oder schlimmer, und jedes neue Unternehmen endet als Verkehrsunfall. Sie sollen uns helfen, das wieder in Ordnung zu bringen.< Gerald empört sich nicht, er vermeidet sorgfältig jede Anspielung auf einen möglichen Verräter innerhalb des Circus, der sämtliche Operationen auffliegen läßt, denn Sie und ich wissen, daß die ganze Maschinerie zum Stillstand kommt, sobald ein solches Wort sich herumspricht. Jedenfalls, das letzte, was Gerald sich wünscht, ist eine Hexenjagd. Aber er sagt immerhin, daß die Dienststelle nicht ganz dicht sei und daß Schlamperei an der Spitze zu Fehlschlägen auf den unteren Ebenen führe. Alles Musik in Percys Ohren. Gerald zählt die jüngsten Skandale auf und betont geflissentlich Allelines eigenes Nahost-Abenteuer, das so schief gelaufen war und Percy um ein Haar seine Karriere gekostet hätte. Dann rückt er mit seinem Vorschlag heraus. Er sagt folgendes. Nach meiner Theorie, wohlgemerkt; es ist nur eine Theorie.«