»Klar, George«, sagte Toby und leckte sich die Lippen. »Eine andere Theorie könnte lauten, daß Alleline sein eigener Gerald gewesen sei, verstehen Sie. Nur daß ich das zufällig nicht glaube: Ich glaube nicht, daß Percy fähig wäre, herzugehen, sich einen erstklassigen russischen Spion zu kaufen und von da an sein Schiff mit eigenen Leuten zu bemannen. Ich nehme an, er hätte alles verpatzt.«
»Klar«, sagte Esterhase mit absoluter Bestimmtheit. »Also, nach meiner Theorie sagt Gerald zu Percy sodann folgendes: >Wir - das heißt, ich und die gleichgesinnten Seelen, die mit diesem Projekt verbunden sind - möchten, daß Sie, Percy, als unsere Vaterfigur handeln. Wir sind keine Politiker, wir sind Praktiker. Im Whitehall-Dschungel kennen wir uns nicht aus. Sie schon. Sie übernehmen die Ausschüsse, wir übernehmen Merlin. Wenn Sie als unsere Sicherung fungieren und uns vor dem Unfug, der dort getrieben wird, schützen, was im Effekt bedeutet, daß Sie die Kenntnis von unserer Operation auf das absolute Minimum beschränken, dann liefern wir die Ware. < Sie besprechen die praktischen Möglichkeiten, wie das zu bewerkstelligen wäre, dann läßt Gerald eine Weile Percy im eigenen Saft schmoren. Eine Woche, einen Monat, das weiß ich nicht. Lange genug, daß Percy es sich hat überlegen können. Eines Tages legt Gerald das erste Muster vor. Und es ist natürlich sehr gut. Sehr, sehr gut. Zufällig etwas, das die Navy angeht, was Percy nicht besser zupaß kommen könnte, denn er ist bei der Admiralität sehr gut angeschrieben, sie stützen ihm dort den Rücken. Percy läßt also seine Freunde von der Navy einen verstohlenen Blick darauf werfen, und das Wasser läuft ihnen im Mund zusammen. >Woher kommt es? Wird noch mehr folgen?< Eine ganze Menge. Was die Identität der Quelle angeht - nun, die ist in diesem Stadium noch streng geheim, aber das ist ganz in Ordnung. Entschuldigen Sie, wenn ich hier vielleicht ziemlich weit danebentippe, aber ich habe als einzigen Anhaltspunkt die Akten.«
Die Erwähnung der Akten, die erste Andeutung, daß Smiley vielleicht in irgendeiner offiziellen Eigenschaft handle, rief bei Esterhase eine deutliche Reaktion hervor. Zu dem gewöhnlichen Lippenlecken gesellte sich ein Vorwärtsrecken des Kopfes und ein Ausdruck gerissener Vertraulichkeit, als versuchte Toby mittels aller dieser Signale anzudeuten, auch er habe die Akte gelesen, welche Akte es auch immer gewesen sein mochte, und teile Smileys Schlußfolgerungen rückhaltlos. Smiley hatte sich abgewandt und trank einen Schluck Tee. »Für Toby auch?« fragte er über seine Tasse hinweg. »Mach ich«, sagte Guillam mehr energisch als gastfreundlich. »Tee, Fawn«, rief er durch die Tür. Sie öffnete sich sofort, und Fawn erschien auf der Schwelle, eine Tasse in der Hand. Smiley stand nun wieder am Fenster. Er hatte den Vorhang einen Spalt beiseite geschoben und starrte auf den Platz hinunter. »Toby?«
»Ja, George?«
»Haben Sie einen Babysitter mitgebracht?«
»Nein.«
»Niemanden?«
»George, warum sollte ich Babysitter mitbringen, wenn ich doch nur Peter und einen armen Polen treffen wollte?« Smiley kehrte zu seinem Stuhl zurück. »Merlin als Quelle«, begann er von neuem. »Wo war ich stehengeblieben? Ach, ja. Merlin war nicht eigentlich nur eine einzige Quelle, nicht wahr, wie Gerald nach und nach Percy und den beiden anderen beibrachte, die er inzwischen in den magischen Kreis einbezogen hatte. Gewiß. Merlin war sowjetischer Agent, aber ähnlich wie Alleline war er auch der Sprecher einer Gruppe Unzufriedener. Wir sehen uns selber gern in der Situation anderer, und ich bin überzeugt, daß Percy sich von Anfang an für Merlin erwärmte. Diese Gruppe, die Clique, deren Anführer Merlin war, bestand aus, sagen wir, einem halben Dutzend gleichgesinnter sowjetischer Beamter, von denen jeder auf seine Weise vortrefflich plaziert war. Im Lauf der Zeit hat Gerald, wie ich argwöhne, seinen Leutnants und Percy ein ziemlich genaues Bild dieser Unter-Quellen vermittelt, aber ich weiß es nicht. Merlins Job bestand darin, ihre Informationen zu sammeln und in den Westen zu spielen, und während der folgenden Monate bewies er bei dieser Tätigkeit bemerkenswertes Geschick. Er benutzte alle möglichen Methoden, und der Circus lieferte ihm nur zu gern das Rüstzeug. Geheimschriften, Mikropunkte, die über Punkte in harmlos aussehenden Briefen angebracht wurden, tote Briefkästen in westlichen Hauptstädten, die von Gott weiß welchem wackeren Russen gefüllt und von Toby Esterhases wackeren Aufklärern pflichtbewußt geleert worden waren. Sogar persönliche Zusammenkünfte, von Tobys Babysittern arrangiert und bewacht« - kurze Pause, während Smiley wieder zum Fenster blickte - »ein paar Hinterlegungen in Moskau, die von unserer dortigen Außenstelle weitergespielt werden mußten, obwohl sie dort nie erfahren durften, wer ihr Wohltäter war. Aber kein Geheimfunk. Dafür hat Merlin nichts übrig. Es war einmal vorgeschlagen worden - kam sogar bis zum Schatzamt - einen ständigen Langwellensender in Finnland einzurichten, nur zu seiner Verfügung, aber man ließ das Projekt fallen, als Merlin sagte: >Nicht in die Tüte. < Muß bei Karla in die Schule gegangen sein, wie? Sie wissen, Karla haßt den Funk. Das Tollste an Merlin ist seine Beweglichkeit: sein größtes Talent. Vielleicht sitzt er im Moskauer Handelsministerium und kann die Handlungsreisenden einsetzen. Wie dem auch sei, er hat die Mittel und er hat die Kanäle, die aus Rußland herausführen. Und deshalb haben seine Mitverschwörer ihn ausersehen, mit Gerald zu verhandeln, die Bedingungen auszuhandeln, die finanziellen Bedingungen. Sie wollen nämlich Geld. Eine Menge Geld. Ich hätte das schon erwähnen sollen. In dieser Hinsicht sind Geheimdienste und ihre Konsumenten leider wie gewöhnliche Sterbliche. Sie schätzen am meisten, was am meisten kostet, und Merlin kostet ein Vermögen. Schon mal ein gefälschtes Bild gekauft?«
»Hab' mal ein paar verkauft«, sagte Toby mit einem zuckenden nervösen Lächeln, aber niemand lachte.
»Je mehr man dafür zahlt, um so weniger ist man geneigt, an der Echtheit zu zweifeln. Töricht, aber so sind wir. Es ist auch für jedermann tröstlich zu wissen, daß Merlin käuflich ist. Das ist ein Motiv, das wir alle verstehen, stimmt's Toby? Besonders im Schatzamt. Fünfzigtausend Franken pro Monat auf ein Schweizer Bankkonto: also, ich möchte wissen, wer dafür nicht ein paar Gleichheitsprinzipien ein bißchen verdreht. Whitehall zahlt ihm also ein Vermögen und bezeichnet seine Informationen als unbezahlbar. Und einiges ist tatsächlich gut«, räumte Smiley ein. »Sehr gut, meine ich, und das sollte es auch sein. Dann weiht Gerald eines schönen Tages Percy in das allergrößte Geheimnis ein. Die Merlin-Clique hat einen Londoner Anhang. Es ist der Anfang, wie ich Ihnen jetzt verraten sollte, einer sehr, sehr klugen Kombination.«
Toby stellte seine Tasse ab und betupfte mit dem Taschentuch geziert seine Mundwinkel.
»Laut Gerald ist ein Mitglied der Sowjetbotschaft hier in London willens und in der Lage, als Merlins Londoner Repräsentant zu fungieren. Er kann es sich sogar leisten, in Ausnahmefällen die Botschaftseinrichtungen zu benutzen, um mit Merlin in Moskau zu sprechen, Botschaften zu senden und zu empfangen. Und daß es, vorbehaltlich aller nur denkbaren Vorsichtsmaßnahmen, Gerald sogar darin und wann möglich sei, heimliche Zusammenkünfte mit diesem Zauberer zu arrangieren, ihn zu instruieren und zu desinstruieren, Nachfaß-Fragen an Merlin zu stellen und die Antwort beinah postwendend zu erhalten. Wir wollen diesen Sowjetfunktionär Alexei Alexandrowitsch Poljakow nennen und von der Annahme ausgehen, er gehöre der Kulturabteilung der Sowjetbotschaft an. Können Sie mir folgen?«