In Paris springt Ricki Tarr hart mit einem alten Freund um und schickt Percy Alleline ein Grußtelegramm
Steve Mackelvore beging an diesem selben Abend vermutlich nur den einen Kunstfehler: er machte sich Vorwürfe, daß er die Beifahrertür seines Wagens nicht abgeschlossen hatte. Als er von der Fahrerseite her eingestiegen war, hatte er es seiner eigenen Nachlässigkeit zugeschrieben, daß die andere Seite nicht verriegelt war. Überleben, wie Jim Prideaux sich immer wieder sagte, ist die unbegrenzte Fähigkeit zum Argwohn. Nach diesem strengen Maßstab hätte Mackelvore argwöhnen müssen, daß mitten in einer besonders schlimmen Stoßzeit, an einem besonders miesen Abend in einer der lärmerfüllten Seitenstraßen, die in das untere Ende der Champs Elysees münden, Ricki Tarr die Beifahrertür aufgeschlossen haben und ihn mit vorgehaltener Pistole bedrohen würde. Aber das Leben in der Pariser Außenstelle war damals wenig geeignet, den Verstand eines Mannes im ständigen Alarmzustand zu halten, und Mackelvores Arbeitstag war größtenteils mit der Aufstellung seiner wöchentlichen Spesenabrechnung und mit dem Einsammeln der Spesenquittungen seiner Mitarbeiter für die Personalabteilung vergangen. Nur der Lunch, eine recht längliche Angelegenheit mit einem heuchlerischen Englandfreund im französischen Sicherheitslabyrinth, hatte die Eintönigkeit dieses Freitags unterbrochen. Sein Wagen war unter einer Platane geparkt, die an Auspuffgasen dahinsiechte. Er hatte exterritoriale Nummernschilder und auf der Rückseite CC aufgeklebt, denn die Außenstelle war als Konsulatsbüro getarnt, was allerdings niemand ernst nahm. Mackelvore war Circus-Veteran, ein vierschrötiger, weißhaariger Mann aus Yorkshire, mit einer langen Liste von Konsulatsposten, die ihn in den Augen der Welt nicht vorangebracht hatten. Paris war die letzte Station. Er hatte für Paris nicht besonders viel übrig und wußte aus vielen Berufsjahren im Fernen Osten, daß die Franzosen nicht sein Fall waren. Aber als Auftakt zum Ruhestand konnte es nichts Besseres geben. Die Bezüge waren reichlich, der Posten bequem, und in den zehn Monaten, die er jetzt hier war, hatte man nicht mehr von ihm verlangt, als sich gelegentlich eines durchreisenden Agenten anzunehmen, hier und dort ein Zeichen oder Signal anzubringen. Bei irgendeinem Unternehmen der Londoner Zentrale den Briefträger zu spielen und den »Feuerwehrleuten«, die auf einen Sprung herüberkamen, mal was Tolles zu bieten.
Das heißt, bis jetzt, bis er nun in seinem eigenen Wagen saß, mit Tarrs Kanone gegen seine Rippen gepreßt, während Tarrs Hand liebevoll auf seiner rechten Schulter ruhte, bereit, ihm den Hals umzudrehen, falls er Zicken machen sollte. Kaum einen Meter entfernt hasteten Mädchen auf ihrem Weg zur Metro vorüber, und noch einen Meter weiter war der Verkehr zum Stillstand gekommen und konnte eine Stunde lang so bleiben. Niemand kümmerte sich im geringsten um zwei Männer, die in einem geparkten Auto gemütlich miteinander plauderten. Seit Mackelvore eingestiegen war, hatte Tarr das Reden besorgt. Er müsse dringend eine Botschaft an Alleline absenden, sagte er. Persönlich und nur vom Adressaten zu entschlüsseln und Tarr möchte, daß Mackelvore für ihn den Apparat bedient, während Tarr mit der Kanone danebenstehe.
»Was zum Teufel haben Sie ausgefressen, Ricki?« klagte Mackelvore, während sie Arm in Arm zur Außenstelle zurückgingen. »Der ganze Geheimdienst sucht Sie, das wissen Sie doch, oder? Sie ziehen Ihnen das Fell über die Ohren, wenn sie Sie finden. Wir sollen Sie bei erster Gelegenheit mit allen Mitteln dingfest machen.« Er dachte daran, sich auf Tarr zu stürzen und ihm einen Nackenschlag zu versetzen, aber er wußte, daß er nicht schnell genug sei und daß Tarr ihn töten würde. Die Botschaft würde etwa zweihundert Gruppen umfassen, sagte Tarr, als Mackelvore die Vordertür aufschloß und die Lichter anknipste. Wenn Steve diese Gruppen durchgegeben hätte, würden sie am Apparat sitzenbleiben und auf Percys Antwort warten. Spätestens morgen würde Percy, wenn Tarrs Instinkt nicht trog, in Paris angebraust kommen, um mit Ricki eine Unterredung zu haben. Diese Unterredung würde ebenfalls in der Außenstelle stattfinden, da Tarr es für eine Spur weniger wahrscheinlich hielt, daß die Russen versuchen würden, ihn auf konsularischem Boden umzubringen.
»Sie sind von Sinnen, Ricki. Nicht die Russen wollen Sie umbringen, sondern unsere Leute.«
Der vordere Raum wurde als Empfang bezeichnet, das einzige, was von der Tarnung übriggeblieben war. Eine alte Holztheke stand darin, und an den schmuddeligen Wänden hingen längst überholte Bekanntmachungen an britische Staatsbürger. Hier durchsuchte Tarr mit der linken Hand Mackelvore nach einer Waffe, fand jedoch keine. Das Haus war im Geviert um einen Innenhof erbaut, und fast alles Wichtige lag über dem Hof: der Chiffrierraum, der Tresorraum und die Apparate. »Sie sind wahnsinnig, Ricki«, warnte Mackelvore nochmals, als er durch eine Reihe leerer Büros voranging und am Chiffrierraum klingelte. »Sie hielten sich schon immer für Napoleon Bonaparte, und jetzt sind Sie vollends übergeschnappt. Sie haben von Ihrem Dad zuviel Religion erwischt.«
Die stählerne Sprechklappe wurde zurückgeschoben, und ein fragendes, leicht albernes Gesicht erschien in der Öffnung. »Sie können nach Hause gehen, Ben. Gehen Sie heim zu Ihrer Missus, aber gehen Sie nicht weit vom Telefon weg, falls ich Sie brauchen sollte, mein Junge. Lassen Sie die Bücher da, wo sie sind, und stecken Sie die Schlüssel in die Maschinen. Ich muß sofort mit London sprechen, und zwar allein.«
Das Gesicht verschwand, und sie warteten, bis der junge Mann die Tür von drinnen aufgeschlossen hatte: ein Schlüssel, noch ein Schlüssel, ein Schnappschloß.
»Dieser Herr kommt aus Nahost, Ben«, erklärte Mackelvore, als die Tür aufging. »Er ist einer meiner allerbesten V-Leute.«
»Hallo, Sir«, sagte Ben. Er war ein großer Junge, der aussah wie ein Mathematikstudent, mit Brille und beharrlichem Blick. »Trollen Sie sich nur, Ben. Ich werd's Ihnen nicht abziehen. Sie haben das Wochenende frei bei voller Bezahlung, und Sie müssen die Zeit auch nicht nacharbeiten. Also raus mit Ihnen.«
»Ben bleibt hier«, sagte Tarr.
Die Beleuchtung am Cambridge Circus war gelb, und von Mendels Standplatz im dritten Stockwerk des Bekleidungshauses funkelte die nasse Fahrbahn wie Golddouble. Es war fast Mitternacht, und er stand seit drei Stunden dort. Er stand zwischen einer Netzgardine und einem Kleidergestell. Er stand so, wie Polizisten auf der ganzen Welt stehen: Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt, Beine gestreckt, leicht über die Standlinie zurückgebeugt. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen und den Kragen hochgeschlagen, damit man von der Straße aus sein weißes Gesicht nicht sehen könne, aber seine Augen, die den Vordereingang gegenüber beobachteten, leuchteten wie Katzenaugen in einem Keller.
Er würde noch weitere drei Stunden warten oder weitere sechs: Mendel war wieder auf Kriegspfad, die Witterung der Jagd war in seinen Nüstern. Mehr noch, er war ein Nachtvogel; die Dunkelheit in dieser Kleiderwerkstatt weckte alle seine Sinne. Das Straßenlicht, das bis hierherauf reichte, warf blasse Flecken an die Decke des Raumes. Alles übrige, die Zuschneidetische, die Stoffballen, die zugedeckten Nähmaschinen, das Dampfbügeleisen, die signierten Fotos der Fürstlichkeiten von Geblüt, war nur vorhanden, weil er es auf seinem Erkundungsgang am Nachmittag gesehen hatte; das Licht reichte nicht bis zu diesen Gegenständen, und sogar jetzt konnte er sie kaum ausmachen.
Von seinem Fenster aus überblickte er fast alles, was sich drunten tat: acht oder neun ungleiche Straßen und Gassen, die ohne ersichtlichen Grund Cambridge Circus zum Treffpunkt gewählt hatten.
Die Gebäude zwischen ihnen waren Tineff, mit Stilzutaten billig herausgeputzt: eine romantische Bank, ein Theater wie eine große säkularisierte Moschee. Dahinter schoben sich Hochbauten vor wie eine Armee von Robotern. Darüber füllte ein rosa Himmel sich langsam mit Nebel.
Warum war es so still? fragte er sich. Das Theater hatte zwar längst Schluß gemacht, aber warum sorgte die Vergnügungsindustrie von Soho, die nur einen Steinwurf von seinem Fenster entfernt war, nicht dafür, daß der Platz voll von Taxis und Gruppen von Nachtschwärmern war? Kein einziger Lastwagen mit Obst war auf dem Weg nach Covent Garden durch die Shaftesbury Avenue gerumpelt.