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Wieder einmal betrachtete Mendel durch seinen Feldstecher das Haus direkt gegenüber. Es schien noch tiefer zu schlafen als seine Nachbarn. Die Doppeltüren des Eingangs waren geschlossen und in den Fenstern des Erdgeschosses war kein Licht zu sehen. Nur in der dritten Etage kam aus dem zweiten Fenster von links ein bleicher Schein, und Mendel wußte, daß es das Zimmer des Diensthabenden war, Smiley hatte es ihm gesagt. Er hob das Glas kurz zum Dach, wo ein Antennenwald wilde Muster an den Himmel zeichnete; dann ein Stockwerk tiefer auf die vier abgedunkelten Fenster der Funkabteilung.

»Nachts benutzen alle den Vordereingang«, hatte Guillam gesagt. »Dadurch spart man Portiers ein.«

In diesen drei Stunden hatten nur drei Ereignisse Mendels Wachsamkeit belohnt: eines pro Stunde ist nicht viel. Um fünf nach neun hatte ein blauer Ford Transit zwei Männer abgesetzt, die etwas trugen, das wie eine Munitionskiste aussah. Sie schlossen sich die Tür selber auf und wieder zu, sobald sie drinnen waren, während Mendel seinen Kommentar ins Telefon flüsterte. Um zehn Uhr oder wenig später war der Pendelbus angekommen: darauf hatte Guillam ihn ebenfalls vorbereitet. Der Pendelbus sammelte heiße Dokumente von den umliegenden Dienststellen und brachte sie übers Wochenende in den Safe des Circus. Er fuhr in Brixton vor, in Acton und in Sarratt, in dieser Reihenfolge, sagte Guillam, zuletzt bei der Admiralität, und war um zehn Uhr soundsoviel im Circus. An diesem Abend kam er punkt zehn an, und dieses Mal stürzten zwei Männer aus dem Haus und halfen beim Abladen: Mendel meldete auch dies, und Smiley bestätigte die Meldung mit einem geduldigen: »Danke.« Saß Smiley irgendwo? Stand er im Dunkeln wie Mendel? Mendel vermutete es. Von all den komischen Vögeln, die er je gekannt hatte, war Smiley der komischste. Wenn man ihn sah, glaubte man, er könne nicht allein über die Straße gehen, aber man hätte genausogut einem Igel seinen Schutz anbieten können. Spinner, dachte Mendel. Ein Leben lang Verbrecher gejagt, und wie ende ich? Einbruch und unbefugtes Betreten, im Dunkeln stehen und die Spinner bespitzeln. Er hatte nie etwas für Spinner übrig gehabt, bis er Smiley kennenlernte. Hielt sie für eine lästige Bande von Amateuren und College-Boys; hielt sie für verfassungswidrig; dachte, das Beste, was diese besondere Branche um ihres eigenen Wohls und des Wohls der Öffentlichkeit willen tun könne, sei »Ja, Sir«, »Nein, Sir« sagen, und die Unterlagen verlieren. Apropos, mit Ausnahme von Smiley und Guillam war es genau das, was er auch an diesem Abend dachte. Kurz vor elf, also vor genau einer Stunde, war ein Taxi gekommen. Eine gewöhnliche zugelassene Londoner Autodroschke, die vor dem Theater hielt. Auch darauf hatte Smiley ihn hingewiesen: es war beim Geheimdienst üblich, daß man Taxis nie bis an die Tür fahren ließ. Manche hielten bei Foyle's Buchhandlung, manche in der Old Compton Street oder vor einem der Geschäfte; die meisten Circus-Leute hatten ein bestimmtes Tarnziel, Alleline zum Beispiel fuhr immer bis zum Theater. Mendel hatte Alleline noch nie gesehen, aber er hatte seine Beschreibung, und als er ihn durch das Glas beobachtete, erkannte er ihn zweifelsfrei, einen großen, schwerfälligen Mann im dunklen Mantel, und er sah sogar, daß der Taxifahrer das Trinkgeld mit saurer Miene betrachtete und ihm etwas nachrief, als Alleline nach seinen Schlüsseln tastete.

Die Vordertür ist nicht gesichert, hatte Guillam ihm erklärt, sie ist nur verschlossen. Die Sicherung beginnt erst drinnen, wenn man am Ende des Korridors links abgebogen ist. Alleline haust in der fünften Etage. Sie werden kein Licht in seinen Fenstern sehen, aber durch ein Oberlichtfenster fällt der Schein auf einen hohen Schornstein. Und tatsächlich erschien, während er das Glas nach oben gerichtet hatte, ein gelber Fleck auf den verschmutzten Klinkern des Schornsteins: Alleline hatte sein Büro betreten.

Und der junge Guillam hat Urlaub nötig, dachte Mendel. Auch das hatte er kommen sehen: die harten Burschen, die mit vierzig zusammenklappen. Sie schieben es beiseite, sie tun, als wäre nichts, suchen Halt bei Erwachsenen, die sich dann als gar nicht so erwachsen erweisen; und eines Tages ist es soweit, ihre Helden stürzen vom Postament, und sie selber sitzen an ihren Schreibtischen, und die Tränen tropfen auf die Löschunterlage. Er hatte den Telefonhörer auf den Boden gelegt. Nun nahm er ihn auf und sagte: »Sieht aus, als wäre das As reingeschlüpft.« Er gab die Nummer des Taxis durch und wartete. »Wie hat er ausgesehen?« flüsterte Smiley. »In Eile«, sagte Mendel. »Hat allen Grund.«

Der da wird bestimmt nicht zusammenklappen, befand Mendel anerkennend: typische Schwammeiche, dieser Smiley. Sieht aus, als könnte man ihn mit einem Schubs umwerfen, aber wenn der Sturm losbricht, ist er der einzige, der am Ende stehenbleibt. Während dieser Überlegungen fuhr ein zweites Taxi vor, geradewegs am Vordereingang, und eine hohe, bedächtige Gestalt kletterte vorsichtig Stufe für Stufe hinauf, wie ein Mann, der auf sein Herz achten muß.

»Hier kommt Ihr König«, flüsterte Mendel ins Telefon. »Moment noch, der Bube ist auch da. Sieht aus wie großes Treffen der Clans. Hoppla, immer langsam.«

Ein alter Mercedes 190 kam aus der Earlham Street geschossen, machte direkt unter seinem Fenster kehrt und kratzte gerade noch die Kurve bis zum Nordende der Charing Cross Road, wo er parkte. Ein junger, schwergebauter Mann mit rostbraunem Haar stieg aus, knallte die Tür zu und wuchtete über die Straße zum Eingang, ohne auch nur den Zündschlüssel abgezogen zu haben. Kurz darauf ging ein weiteres Licht im vierten Stock an, als Roy Bland sich dazugesellte.

»Jetzt brauchen wir nur noch zu wissen«, dachte Mendel, »wer kommt wieder raus?«

In London bekommt Inspektor Mendel eine Freikarte für den Circus, und George Smiley macht sich auf die Socken

Lock Gardens war eine Reihe von vier schmucklosen Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, halbmondförmig angelegt, jedes mit drei Obergeschossen und einem Souterrain und einem schmalen ummauerten Hintergarten, der sich zum Regent's Canal hinunterzog. Sie waren von zwei bis fünf numeriert: Nummer eins war entweder eingestürzt oder nie erbaut worden. Nummer fünf bildete das Nordende, und als »sicheres Haus« hätte man sich nichts Vorteilhafteres denken können, denn es gab drei Zugänge im Umkreis von zehn Metern und der Treidelpfad am Kanal bot noch zwei weitere. Nördlich lag die Camden High Street als Verkehrsanschluß; südlich und westlich lagen die Parks und Primrose Hill. Und was noch hinzukam: die Gegend war vom sozialen Anstrich her nicht einzustufen und war auch nicht darauf aus. Einige Häuser waren in Ein-Zimmer-Apartments aufgeteilt und hatten zehn Türklingeln, wie Schreibmaschinentasten angeordnet. Andere waren vornehm geworden und hatten nur eine Klingel. Nr. 5 hatte zwei: eine für Millie McCraig und eine für ihren Mieter, Mr. Jefferson.

Mrs. McCraig war sehr kirchlich eingestellt und sammelte für alles, was ihr zufällig eine ausgezeichnete Gelegenheit verschaffte, die Umwohner im Auge zu behalten, wenn sie auch ihren Sammeleifer kaum so auslegten. Von Jefferson, ihrem Mieter, wußte man nur, daß er Ausländer war und in der Ölbranche und viel auf Reisen. Lock Gardens war sein pied-á-terre. Wenn die Nachbarn ihm überhaupt Aufmerksamkeit schenkten, so fanden sie ihn schüchtern und respektabel. Den gleichen Eindruck hätten sie auch von George Smiley gewonnen, wenn sie ihn zufällig an jenem Abend um neun Uhr im trüben Eingangslicht gesehen hätten, ehe Millie McCraig ihn ins Vorderzimmer führte und die züchtigen Gardinen zuzog. Sie war eine drahtige schottische Witwe mit braunen Strümpfen und gewelltem Haar und der blanken, runzeligen Haut eines alten Mannes. Zur Ehre Gottes und des Circus hatte sie Bibelschulen in Mozambique geleitet und ein Seemannsheim in Hamburg, und obwohl sie seit nunmehr zwanzig Jahren berufsmäßige Lauscherin war, neigte sie noch immer dazu, alle Mannsbilder als Missetäter zu behandeln. Er konnte nicht herausfinden, was sie dachte. Ihr Benehmen war vom Augenblick seines Kommens an von tiefer und einsamer Schweigsamkeit geprägt; sie führte ihn durch das Haus wie eine Schloßherrin, deren Gäste längst tot sind.