Ben war noch nicht ganz zu Ende, als Tarr bereits seltsam unbeherrscht zu lachen begann.
»So ist's richtig, Percy-Boy!« schrie er. »Ja wiederhole nein! Wissen Sie, warum er mauert, Herzenslieben? Er nimmt Maß, um mich in den Rücken zu schießen! Genauso hat er mein Ruskimädel erwischt. Wieder seine alte Masche, dieser gemeine Hund.« Er zauste Bens Haar, schrie ihn an, lachte: »Ich warne Sie, Ben: in diesem Laden stecken ein paar ganz falsche Fuffziger, also traun Sie keinem einzigen von ihnen, lassen Sie sich's gesagt sein, oder Sie werden nie groß und stark werden!«
Im dunklen Wohnzimmer wartete auch Smiley, er saß allein im unbequemen Sessel der Haushälterin, die Hörmuschel des Telefons schmerzhaft gegen den Kopf geklemmt. Dann und wann murmelte er etwas, und Mendel murmelte zurück, meist jedoch verband sie das Schweigen. Seine Stimmung war mäßig, sogar ein bißchen trübe. Wie ein Schauspieler hatte er Lampenfieber, ehe der Vorhang hochging, ein Gefühl, als ob alles Große plötzlich zu einem kleinlichen, miesen Ende zusammenschrumpfte; schließlich erschien ihm nach den Kämpfen seines Lebens sogar der Tod kleinlich und mies. Er war sich keines Siegesgefühls bewußt. Wie so oft, wenn er Furcht empfand, kreisten seine Gedanken um die betroffenen Menschen. Er hatte keine besonderen Theorien oder fertigen Urteile. Er überlegte nur, in welcher Weise jeder einzelne berührt würde; und er fühlte sich verantwortlich. Er dachte an Jim und Sam und Max und Connie und Jerry Westerby und die vielen persönlichen Treuebande, die zerrissen waren; auf anderer Ebene dachte er an Ann und die hoffnungslose Verworrenheit ihres Gesprächs auf den Klippen Cornwalls; er fragte sich, ob es überhaupt Liebe zwischen Menschen gab, die nicht auf irgendeiner Art von Selbsttäuschung beruhte; am liebsten wäre er einfach aufgestanden und weggegangen, ehe es passieren würde, aber das konnte er nicht. Er machte sich, fast wie ein Vater, Sorgen um Guillam, fragte sich, wie er die verspäteten Mühen des Erwachsenwerdens verkraften mochte. Wieder dachte er an den Tag, an dem er Control begrub. Er dachte über Verrat nach und überlegte, ob es wohl fahrlässigen Verrat geben könne, so wie es fahrlässige Körperverletzung gibt. Es bestürzte ihn, daß er sich so am Ende fühlte; daß alle intellektuellen oder philosophischen Leitlinien, an die er sich gehalten hatte, völlig zusammenbrachen, jetzt, da er sich mit der Situation des Menschen konfrontiert sah. »Gibt's was?« fragte er Mendel über das Telefon. »Ein paar Betrunkene«, sagte Mendel, »sie singen > Am Tag, als der Regen kam<.«
»Nie gehört.«
Er nahm den Hörer ans linke Ohr und zog die Pistole aus der Brusttasche seines Jacketts, wo sie bereits das vorzügliche Seidenfutter ruiniert hatte. Er entdeckte die Sicherung und amüsierte sich flüchtig bei dem Gedanken, daß er nicht wußte, welche Stellung >zu< und welche >auf< bedeutete. Er ließ das Magazin herausgleiten und steckte es wieder hinein und erinnerte sich, wie er es Hunderte von Malen im Laufen getan hatte, bei den Nachtübungen in Sarratt vor dem Krieg; er erinnerte sich daran, daß man immer mit beiden Händen schoß, Sir, eine hält die Pistole und die andere das Magazin, Sir; und an jenes Detail der Circus-Folklore, das verlangte, daß er den Zeigefinger der einen Hand flach an den Lauf legen und den Abzug mit dem anderen drücken sollte. Aber als er es versuchte, war das Gefühl dabei ausgesprochen lächerlich, und er ließ es sein.
»Geh ein bißchen spazieren«, murmelte er, und Mendel sagte: »Nur zu.«
Die Pistole noch immer in der Hand, ging er in die Spülküche, lauschte dabei auf ein Knarren der Bodenbretter, das ihn verraten könnte, aber der Boden unter dem Strohteppich mußte Zement sein; er hätte darauf herumhüpfen können, ohne daß auch nur eine Schwingung entstanden wäre. Mit der Taschenlampe gab er zwei kurze Signale, machte eine lange Pause und gab nochmals zwei. Sofort antwortete Guillam mit drei kurzen Zeichen. »Wieder zurück«
»Verstanden», sagte Mendel.
Er ließ sich nieder und dachte mißlaunig an Ann: den unmöglichen Traum träumen. Er steckte die Pistole in die Tasche. Vom Kanal her das Muhen eines Nebelhorns. Bei Nacht? Fuhren dort Schiffe bei Nacht? Mußte ein Auto sein. Wie, wenn Gerald eine komplette Notstands-Prozedur hatte, über die wir nichts wissen? Verbindung zwischen Fernsprechzellen, einen Auto-Treff? Wie, wenn Poljakow doch einen Kurier hatte, einen Gehilfen, den Connie nie identifizieren konnte? Das war ihm alles schon untergekommen. Solche Systeme waren wasserdicht, waren bei Zusammenkünften unter allen möglichen Umständen anwendbar. Wenn's ums Handwerkliche geht, ist Karla ein Pedant. Und seine fixe Idee, daß er beschattet wurde? Was war damit? Was war mit dem Schatten, den er nicht gesehen, nur gefühlt hatte, bis sein Rücken unter dem beharrlichen Blick seines Beobachters zu kribbeln schien; er hatte nichts gesehen, nichts gehört, nur gefühlt. Er war zu alt, um die Warnung in den Wind zu schlagen. Das Knarren einer Stufe, die sonst nie geknarrt hatte; das Klappern eines Fensterladens, obwohl kein Wind ging; das Auto mit anderen Nummernschildern, aber dem gleichen Kratzer auf dem inneren Kotflügeclass="underline" das Gesicht in der U-Bahn, das man bestimmt schon irgendwo gesehen hatte: er hatte einmal jahrelang mit diesen Zeichen gelebt; jedes einzelne von ihnen war ein ausreichender Grund gewesen, sich zu verändern, die Stadt zu wechseln, die Identität. Denn in diesem Beruf gibt es keine bloßen Zufälle.
»Einer geht«, sagte Mendel plötzlich. »Hallo?«
»Bin da.«
Jemand sei gerade aus dem Circus gekommen, sagte Mendel. Vordertür, aber er konnte nicht genau feststellen, wer es war. Trug Regenmantel und Hut. Bullig, rascher Schritt. Er mußte ein Taxi vor die Tür bestellt haben und direkt eingestiegen sein. »Fährt nach Norden, in Ihre Richtung.«
Smiley schaute auf seine Uhr. Gib ihm zehn Minuten, dachte er. Gib ihm zwölf, er wird unterwegs haltmachen und Poljakow anrufen müssen. Dann dachte er: sei nicht albern, das hat er bereits vom Circus aus erledigt. »Ich lege auf«, sagte Smiley. »Cheers«, sagte Mendel.
Guillam auf dem Treidelpfad las drei lange Lichtzeichen. Der Maulwurf ist unterwegs.
In der Spülküche hatte Smiley noch einmal seine Piste geprüft, drei Liegestühle beiseite geschoben und an die Wäschemangel eine Schnur gebunden, die ihm als Leitseil dienen sollte, denn im Dunkeln sah er schlecht. Die Schnur führte zur offenen Küchentür, die Küche führte sowohl ins Wohnzimmer wie ins Speisezimmer, die beiden Türen lagen nebeneinander. Die Küche war ein langgestreckter Raum, genau gesagt ein Anbau, ehe das Glashaus angefügt worden war. Er hatte daran gedacht, das Eßzimmer zu benutzen, aber es war zu riskant, und außerdem konnte er vom Eßzimmer aus keine Signale zu Guillam senden. Also wartete er in der Spülküche, kam sich lächerlich vor ohne Schuhe, in Socken, putzte seine Brille, denn die Hitze seines Gesichts beschlug dauernd die Gläser. Hier in der Spülküche war es viel kälter. Das Wohnzimmer war von anderen Zimmern umgeben und überheizt, die Spülküche dagegen hatte Außenwände, und das Glas und der Fliesenboden unter den Matten bewirkten, daß seine Füße sich feucht anfühlten. Der Maulwurf kommt als erster, dachte er, der Maulwurf spielt den Gastgeber: das gehört zum Protokoll, zu der Farce, wonach Poljakow Geralds Agent ist. Ein Londoner Taxi ist eine fliegende Bombe. Der Vergleich stieg langsam in ihm auf, aus den Tiefen seiner unbewußten Erinnerung. Das Knattern, wenn es in die ansteigende Kurve einbiegt, das regelmäßige Tick-tack, während das Taxameter stillsteht. Das Halten: wo hat es angehalten, vor welchem Haus, während wir alle hier in der Straße im Dunkeln warten, unter Tischen kauern oder uns an Seilen festhalten, vor welchem Haus? Dann das Zuknallen der Tür, die Entspannung mit der Explosion: wenn du sie hören kannst, ist sie nicht für dich bestimmt.
Aber Smiley hörte sie, und sie war für ihn bestimmt. Er hörte die Schritte eines Paars Füße auf dem Kies, flott und kraftvoll. Sie blieben stehen. Es ist die falsche Tür, dachte Smiley absurderweise, geh weg. Er hatte die Pistole in der Hand, die Sicherung nach unten gedrückt. Er lauschte noch immer, hörte nichts. Du bist auf der Hut, Gerald, dachte er. Du bist ein alter Maulwurf, du witterst, daß etwas nicht stimmt. Millie, dachte er; Millie hat die Milchflaschen weggenommen, ein Warnzeichen aufgestellt, ihn verscheucht. Millie hat uns den Fang verpatzt. Dann hörte er, wie das Schloß sich drehte, einmal, zweimal, es ist ein Banham-Schloß, erinnerte er sich, mein Gott, wir sorgen bei Banham für Absatz. Natürlich: der Maulwurf hatte seine Taschen nach dem Schlüssel abgeklopft. Ein nervöser Mensch hätte ihn bereits in der Hand gehalten, ihn umklammert, auf der ganzen Taxifahrt in seiner Tasche damit gespielt; nicht so der Maulwurf; der Maulwurf mochte beunruhigt sein, nervös war er nicht. Im gleichen Moment, indem das Schloß sich drehte, schlug die Klingel an: auch dies im Hauswarts-Geschmack, hoher Ton, tiefer Ton, hoher Ton. Das bedeutet, daß es einer von uns ist, hatte Millie gesagt; einer der Jungens, ihrer Jungen s, Connies Jungens, Karlas Jungens. Die Vordertür ging auf, jemand trat ins Haus, er hörte das Scharren der Fußmatte, er hörte das Schließen der Tür, er hörte das Klicken der Lichtschalter und sah einen blassen Streifen unter der Küchentür erscheinen, er steckte die Pistole in die Tasche und wischte sich die Handflächen an der Jacke ab, dann nahm er die Pistole wieder heraus, und im gleichen Augenblick hörte er eine zweite fliegende Bombe, ein zweites anhaltendes Taxi und rasche Schritte: Poljakow hatte nicht nur den Schlüssel bereitgehalten, er hatte auch das Fahrgeld bereitgehalten: geben Russen Trinkgelder, fragte er sich, oder sind Trinkgelder undemokratisch? Wieder schlug die Klingel an, die Vordertür öffnete und schloß sich und Smiley hörte das doppelte Klirren, als - wie Ordnung und sauberes Arbeiten es befahlen - zwei Milchflaschen auf den Dielentisch gestellt wurden.