»Nur vorsichtshalber«, beteuerte Smiley. Niemand hatte Lust, ihm zu widersprechen. Haydon stieg ein, die Inquisitoren folgten und verschlossen von innen das Gitter. Als die Tür sich schloß, hob Haydon eine Hand in einer leutseligen Geste der Entlassung in Richtung Allelines.
Erst später kamen Guillam die Einzelheiten zum Bewußtsein, prägten sich einzelne Personen seiner Erinnerung ein: zum Beispiel Poljakows unterschiedsloser Haß auf alle Anwesenden von der armen kleinen Millie McCraig aufwärts - er entstellte ihn buchstäblich; der Mund verzog sich zu einer wilden, unbezähmbaren Hohngrimasse, er wurde weiß und zitterte, aber nicht vor Furcht und nicht vor Wut. Es war einfach blanker Haß von einer Art, wie Guillam ihn an Haydon nicht gesehen hatte; aber schließlich war Haydon ein Mann vom gleichen Schlag wie er selber. Für Alleline entdeckte Guillam in sich eine heimliche Bewunderung im Augenblick der Niederlage: Alleline hatte immerhin Haltung gezeigt. Später allerdings war Guillam nicht mehr so überzeugt, daß Percy bei dieser ersten Konfrontation mit den Tatsachen im vollen Umfang begriffen hatte, was die Tatsachen wirklich waren: trotz allem war er noch immer der Chef, und Haydon noch immer sein Jago.
Aber das Seltsamste war für Guillam, daß es in dem Augenblick, als sie in das Zimmer stürzten, für ihn eines Willensaktes bedurfte, und zwar eines beträchtlichen, um Bill Haydon etwas anderes als Zuneigung entgegenzubringen. Diese Einsicht nahm er mit nach Hause und überdachte sie gründlicher, als es seiner Gewohnheit entsprach. Vielleicht war er, wie Bill sagen würde, endlich erwachsen geworden. Und das Schönste war - als er am selben Abend die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, tönten ihm die vertrauten Töne von Camillas Flöte entgegen. Und wenn Camilla auch in jener Nacht einiges von ihrem geheimnisvollen Zauber verlor, so war es ihm doch bis zum Morgen gelungen, sie aus den Schlingen von Abscheulichkeit und Enttäuschung zu lösen, in die er sie verstrickt hatte.
Auch in anderer Hinsicht nahm sein Leben in den nächsten Tagen eine Wendung zum Besseren. Percy Alleline war auf unbestimmte Zeit beurlaubt worden. Smiley wurde gebeten, vorläufig zurückzukommen und das, was übriggeblieben war, ausfegen zu helfen. Man sprach davon, daß Guillam aus Brixton befreit werden sollte. Erst vie l, viel später erfuhr er, daß das Drama noch einen letzten Akt gehabt hatte, und daß jener vertraute Schatten, der nun endlich einen Namen hatte, Smiley aus gutem Grund durch die nächtlichen Straßen von Kensington gefolgt war.
Inmitten der Nacht unter klarem Himmel beim Mondenschein
Während der folgenden zwei Tage lebte George Smiley in einer Schattenwelt. Seine Nachbarn fanden, wenn sie seiner ansichtig wurden, daß er einem zehrenden Kummer verfallen sei. Er stand spät auf, trödelte im Schlafrock im Haus herum, machte sauber, wischte Staub, kochte sich Mahlzeiten, die er nicht aß. Am Nachmittag zündete er völlig gegen die ungeschriebenen Gesetze seiner Umgebung ein Kohlenfeuer an, setzte sich davor und las seine deutschen Dichter oder schrieb Briefe an Ann, die er selten vollendete und niemals zur Post gab. Wenn das Telefon klingelte, lief er rasch hin, nur um jedesmal enttäuscht zu werden. Draußen war das Wetter nach wie vor miserabel, und die wenigen Passanten - Smiley beobachtete sie ständig — waren vermummt wie arme Leute vom Balkan. Einmal rief Lacon an und übermittelte eine Bitte des Ministers, Smiley solle »mithelfen, den Stall im Cambridge Circus auszumisten, wenn eine solche Aufforderung erginge«, in Wahrheit den Nachtwächter spielen, bis ein Ersatz für Percy Alleline gefunden wäre. Smiley antwortete ausweichend und legte Lacon nochmals ans Herz, er solle mit äußerster Umsicht über Haydons körperliche Sicherheit während des Aufenthalts in Sarratt wachen.
»Dramatisieren Sie nicht ein bißchen?« meinte Lacon. »Der einzige Platz auf der Welt, wohin er gehen kann, ist Rußland, und dorthin schicken wir ihn ohnedies.«
»Wann? Wie bald?«
Die Ausarbeitung der Einzelheiten würden noch ein paar Tage in Anspruch nehmen. Smiley verschmähte es in seiner Erschlaffung nach einem Zustand der Hochspannung zu fragen, ob es mit dem Verhör vorangehe, aber Lacons Verhalten legte nahe, daß die Antwort schlecht gewesen wäre. Mendel brachte ihm handfestere Kost.
»Der Bahnhof Immingham ist geschlossen«, sagte er. »Sie werden in Grimsby aussteigen und auf Schusters Rappen laufen oder einen Bus nehmen müssen.«
Häufig saß Mendel einfach da und beobachtete ihn wie einen Kranken. »Das Warten bringt sie nicht zurück, oder?« sagte er. »Früher mal ging der Berg zu Mohammed. Ein zaghaft Herz hat nie die Schönste heimgeführt, wenn ich so sagen darf.« Am Morgen des dritten Tages klingelte es an der Tür, und Smiley ging so schnell öffnen, als könne es nur Ann sein, die wie üblich ihren Schlüssel verlegt hatte. Es war Lacon. Smiley werde in Sarratt benötigt, sagte er; Haydon bestehe darauf, mit ihm zu sprechen. Die Inquisitoren hatten nichts erreicht, und die Zeit wurde knapp. Man war sich darüber einig, wenn Smiley als Beichtvater fungierte, würde Haydon ein Teilbekenntnis ablegen. »Es wurde mir versichert, daß kein Zwang ausgeübt wurde«, sagte Lacon.
Sarratt war ein trüber Anblick nach dem Glanz, an den Smiley sich erinnerte. Die meisten Ulmen waren dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen; Lichtmaste waren aus dem alten Kricketplatz hochgeschossen. Auch das Haus selber, ein weitläufiges, aus Ziegeln erbautes Herrenhaus, war seit der Blütezeit des Kalten Krieges in Europa sehr heruntergekommen, und der größte Teil des besseren Mobiliars schien verschwunden zu sein, er vermutete, in eines von Allelines Häusern. Er fand Haydon in einer Nissenhütte, die unter Bäumen versteckt war.
Drinnen herrschte der Mief einer Wachstube, die Wände waren schwarz bemalt und die hochgelegenen Fenster vergittert. In den Zimmern zu beiden Seiten waren Wachmannschaften, und sie empfingen Smiley respektvoll und nannten ihn Sir. Offenbar hatte sich einiges herumgesprochen.
Er trug einen Drillichanzug, zitterte und klagte über Schwindel. Mehrmals mußte er sich aufs Bett legen, um das Nasenbluten zu stillen. Ihm war so etwas wie ein Bart gewachsen: anscheinend herrschte Uneinigkeit darüber, ob er ein Rasiermesser bekommen dürfe. »Kopf hoch«, sagte Smiley. »Bald sind Sie hier weg.« Auf der Fahrt hierher hatte er versucht, an Prideaux und Irina und an die tschechischen Netze zu denken, und er hatte sogar Haydons Zimmer noch mit einem vagen Gefühl öffentlicher Verantwortung betreten: irgendwie, dachte er, müßte er ihn im Namen aller Rechtlichdenkenden verurteilen. Statt dessen kam er sich ziemlich schüchtern vor; er spürte, daß er Haydon überhaupt nie gekannt hatte, und jetzt war es zu spät. Er ärgerte sich auch über Haydons körperlichen Zustand, aber als er den Wachen Vorwürfe machte, bekundeten sie Verständnislosigkeit. Noch ärgerlicher wurde er, als er erfuhr, daß die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, auf denen er bestanden hatte, nach dem ersten Tag gelockert worden waren. Als er Craddox, den Leiter der Nursery, zu sprechen verlangte, war Craddox unabkömmlich und sein Assistent stellte sich dumm. Die Unterhaltung war stockend und banal.
Ob Smiley so freundlich sein wolle, die Post aus seinem Club nachzuschicken und Alleline zu bestellen, er möge seinen Kuhhandel mit Karla ein bißchen beschleunigen? Und er benötige Taschentücher, Papiertaschentücher für seine Nase. Daß er ständig weine, erläuterte Haydon, habe nichts mit Reue oder Schmerz zu tun, es sei eine rein physische Reaktion auf das, was er die Verbohrtheit der Inquisitoren nannte, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, daß er, Haydon, die Namen weiterer Karla-Trabanten kenne, und sie unbedingt vor seinem Weggang erfahren wollten. Außerdem gebe es eine Richtung, die dafürhielt, daß Fanshaw von den Christ Church Optimates als Talentsucher sowohl für die Moskauer Zentrale wie für den Circus tätig gewesen sei. Dazu erklärte Haydon: »Ehrlich, was soll man mit solchen Eseln anfangen?« Trotz seines geschwächten Zustands gelang es ihm, den Eindruck zu vermitteln, daß er der einzige verständige Mensch weit und breit sei. Sie machten einen Spaziergang, und Smiley stellte mit gelinder Verzweiflung fest, daß im ganzen Umkreis keine Wachen patrouillierten, weder bei Nacht noch bei Tag. Nach einer Runde bat Haydon, wieder in die Hütte zurückzugehen, wo er ein Fußbodenbrett losmachte und ein paar mit Hieroglyphen bedeckte Blätter hervorholte. Sie erinnerten Smiley wider Willen an Irinas Tagebuch. Er hockte sich aufs Bett und sortierte sie, und in dieser Haltung, dem trüben Licht, mit der langen Haarsträhne, die fast bis auf das Papier hing, hätte er wieder wie damals in den sechziger Jahren in Controls Büro herumlungern und irgendein wundervoll eingängiges und gänzlich undurchführbares Projekt zum größeren Ruhme Englands entwickeln können. Smiley machte sich nicht die Mühe, irgend etwas niederzuschreiben, denn es war ihnen beiden völlig klar, daß ihr Gespräch ohnehin mitgeschnitten wurde. Der Bericht begann mit einer langen Rechtfertigung, von der Smiley sich später nur an ein paar Sätze erinnerte: