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»Wir leben in einer Zeit, in der nur noch grundsätzliche Fragen Beachtung verdienen ...«

»Die Vereinigten Staaten sind nicht mehr in der Lage, ihre Revolution selber zu unternehmen ...«

»Die politische Potenz des Vereinigten Königreichs ist ohne jegliche Relevanz oder moralische Lebensfähigkeit in der Weltpolitik ...«

Vielen dieser Behauptungen hätte Smiley unter anderen Gegebenheiten zugestimmt: es war mehr der Ton als die Musik, was ihn abstieß. »Im kapitalistischen Amerika ist die Unterdrückung in einem Maß institutionalisiert, das nicht einmal Lenin hätte vorhersehen können...«

»Der Kalte Krieg begann 1917, aber die schwersten Kämpfe liegen noch vor uns, denn Amerika wird von seinem Todesdelirium zu immer größeren Exzessen in anderen Ländern getrieben ...« Er sprach nicht vom Verfall des Westens, sondern von seinem Tod durch Habgier und Verstopfung. Er hasse Amerika zutiefst, sagte er, und Smiley nahm es ihm ab. Haydon sah ferner als erwiesen an, daß die Geheimdienste der einzig reale Maßstab für die politische Gesundheit einer Nation waren, der einzige reale Ausdruck ihres Unterbewußtseins.

Schließlich kam er zu seinem eigenen Fall. In Oxford, sagte er, habe er aufrichtig rechts gestanden, und im Krieg sei es ziemlich belanglos gewesen, wo man gestanden habe, solange man gegen die Deutschen kämpfte.

Nach '45, sagte er, habe er sich eine Zeitlang mit Englands Rolle in der Welt zufriedengegeben, bis ihm nach und nach dämmerte, wie unbedeutend diese Rolle gewesen sei. Wie und wann das geschah, blieb ein Geheimnis. Er konnte nicht angeben, bei welcher Gelegenheit sein historisches Weltbild diesen schweren Schock erlitten hatte: er wußte nur, wenn England nicht mehr mit von der Partie sei, so werde sich der Fischpreis nicht um einen Penny ändern. Er hatte sich oft selber die Frage gestellt, auf welcher Seite er stehen werde, wenn die entscheidende Prüfung jemals käme; nach langem Überlegen hatte er sich schließlich eingestehen müssen: falls nur einer der beiden Monolithen die Schlacht gewinnen sollte, würde ihm der Osten als Sieger lieber sein. »Es ist unter anderem auch ein ästhetisches Urteil«, erklärte er und blickte auf. »Natürlich zum Teil auch ein moralisches.«

»Natürlich«, sagte Smiley höflich.

Von da an, sagte er, sei es nur eine Zeitfrage gewesen, bis er seine Kräfte dort einsetzte, wo seine Überzeugungen lagen. Das war die Ernte des ersten Tages. Eine weiße Absonderung hatte sich auf Haydons Lippen gebildet, und seine Augen begannen wieder zu tränen. Sie beschlossen, sich anderentags um die gleiche Zeit wiederzusehen.

»Es wäre gut, wenn wir ein bißchen ins Detail gehen könnten, Bill«, sagte Smiley, als er sich verabschiedete. »Ach, noch eins, sagen Sie's Jan, ja?« Haydon lag auf dem Bett und betupfte sich wieder die Nase. »Ist völlig egal, was Sie sagen, Hauptsache, Sie machen's endgültig.« Er setzte sich auf, schrieb einen Scheck aus und steckte ihn in einen braunen Umschlag. »Geben Sie ihr das für die Milchrechnung.« Da er vielleicht bemerkte, daß Smiley von diesem Auftrag nicht gerade entzückt war: »Schließlich kann ich sie nicht gut mitnehmen, oder? Sogar wenn man sie rüberließe, wäre sie bloß ein verdammter Klotz am Bein.«

Am gleichen Abend noch fuhr Smiley nach Haydons Anweisung mit der U-Bahn nach Kentish Town und machte eine Cottage in einem noch nicht modernisierten Gäßchen ausfindig. Ein unansehnliches blondes Mädchen in Jeans öffnete ihm, es roch nach Ölfarbe und Baby. Er wußte nicht mehr, ob er sie schon einmal in der Bywater Street getroffen hatte, daher begann er: »Ich komme von Bill Haydon. Es geht ihm soweit gut, aber ich soll Ihnen einiges von ihm bestellen.«

»Herrje«, sagte das Mädchen sanft. »Ist auch wahrhaftig Zeit.« Das Wohnzimmer war schäbig. Durch die Küchentür sah er einen Stapel schmutzigen Geschirrs und schloß daraus, daß sie alles benutzte, solange der Vorrat reichte, und dann im großen abwusch. Der Fußboden war kahl bis auf langgestreckte psychedelische Muster aus Schlangen und Blumen und Insekten. »Das ist Bills Michelangelo-Decke«, sagte sie im Konversationston. »Er wird sich nur dabei nicht Michelangelos Rückenschmerzen zuziehen. Kommen Sie von der Regierung?« fragte sie und zündete sich eine Zigarette an. »Er arbeitet für die Regierung, hat er mir gesagt.« Ihre Hand zitterte, und sie hatte gelbe Monde unter den Augen.

»Also, als erstes soll ich Ihnen das da geben«, sagte Smiley, tauchte in eine Innentasche und reichte ihr den Umschlag mit dem Scheck.

»Brot«, sagte das Mädchen und legte den Umschlag neben sich. »Brot«, sagte Smiley und grinste genau wie sie, dann aber bewirkte irgend etwas in seinem Gesichtsausdruck oder die Art, wie er dieses eine Wort wiederholt hatte, daß sie den Umschlag nahm und ihn aufriß. Es lag kein Brief darin, nur der Scheck, aber der Scheck genügte: sogar von seinem Platz aus konnte Smiley sehen, daß die Zahl vierstellig war.

Wie eine Schlafwandlerin ging sie hinüber zum Kamin und legte den Scheck zu den Haushaltsrechnungen in eine alte Blechdose auf dem Kaminsims. Dann ging sie in die Küche und bereitete zwei Tassen Neskaffee, kam aber nur mit einer wieder heraus. »Wo ist er?« sagte sie. Sie stand vor ihm. »Er ist wieder mal mit diesem rotznäsigen kleinen Matrosen abgehauen, wie? Und das ist die Abfindung, ja? Na, Sie können ihm verdammt noch mal von mir sagen . . .«

Smiley hatte solche Szenen schon öfter erlebt, und nun kamen ihm lächerlicherweise die üblichen Worte auf die Zunge: »Bill erfüllt zur Zeit einen Auftrag von nationaler Bedeutung. Es tut mit leid, aber wir dürfen nicht darüber sprechen, und Sie dürfen es auch nicht. Er ist vor ein paar Tagen zu einem geheimen Einsatz ins Ausland gegangen. Er wird längere Zeit fort sein. Er durfte keinem Menschen etwas von seiner Abreise sagen. Er bittet Sie, ihn zu vergessen. Glauben Sie mir, es tut mir sehr leid. Soweit war er gekommen, als sie losplatzte. Er hörte nicht alles, was sie sagte, denn sie tobte und schrie, und als das Baby es hörte, fing es droben ebenfalls zu schreien an. Sie stieß Beschimpfungen aus, nicht gegen ihn, nicht einmal speziell gegen Bill, sie schimpfte und fluchte einfach tränenlos und fragte, wer zum Teufel, wer verdammt, verdammt noch mal heutzutage noch der Regierung vertraue? Dann schlug ihre Stimmung um. An den Wanden sah Smiley lauter Bilder, die Bill gemalt hatte, hauptsächlich von dem Mädchen: nur wenige waren fertig, und sie hatten etwas Verkrampftes, fast Gehetztes im Vergleich zu seinen früheren Arbeiten.