»Sie mögen ihn nicht, wie? Das weiß ich«, sagte sie. »Warum erledigen Sie dann die Dreckarbeit für ihn?«
Auch auf diese Frage schien es keine unmittelbare Antwort zu geben. Auf dem Rückweg zur Bywater Street hatte er wiederum den Eindruck, verfolgt zu werden, und versuchte Mendel anzurufen, ihm die Nummer eines Taxis durchzugeben, das ihm zweimal aufgefallen war, und ihn um sofortige Nachforschungen zu bitten. Doch Mendel war ausnahmsweise bis nach Mitternacht außer Haus: Smiley schlief unruhig und erwachte um fünf Uhr. Um acht war er bereits wieder in Sarratt, wo er Haydon in festlicher Stimmung antraf. Die Inquisitoren hatten ihn nicht mehr belästigt; Craddox hatte ihm gesagt, daß der Austausch genehmigt sei und daß er sich bereithalten solle, morgen oder übermorgen abzureisen. Seine Bitten klangen wie Abschiedsworte: man möge ihm sein restliches Gehalt und die Erlöse aus etwaigen Verkäufen in seinem Namen auf die Moskauer Narodny-Bank überweisen, die ihm auch seine Post zustellen werde. Die Galerie Arnolfini in Bristol habe einige seiner Bilder, darunter ein paar frühe Aquarelle von Damaskus, die er wiederhaben wollte. Ob Smiley bitte dafür sorgen könne? Dann, die Tarnung für sein Verschwinden:
»Ziehen Sie es möglichst lang hin«, riet er. »Sagen Sie, ich hätte dringend verreisen müssen, machen Sie es möglichst geheimnisvoll, lassen Sie ein paar Jahre drüber vergehen, dann machen Sie mir den Garaus ...«
»Ach, ich glaube, wir kriegen das schon hin, vielen Dank«, sagte Smiley.
Zum erstenmal, seit Smiley ihn kannte, machte Haydon sich Gedanken wegen seiner Kleidung. Er wolle bei seiner Ankunft nach etwas aussehen, sagte er: der erste Eindruck sei so wichtig. »Diese Moskauer Schneider sind indiskutabel. Putzen einen auf wie einen Commis.«
»Genau«, sagte Smiley, dessen Meinung über Londoner Schneider keineswegs besser war.
Ach, und da sei noch ein Junge, fügte er nonchalant hinzu, ein Freund bei der Marine, wohnte in Notting Hill. »Am besten geben Sie ihm ein paar Hunderter, damit er die Klappe hält. Können Sie das aus dem Reptilienfonds bestreiten?«
»Bestimmt.«
Er schrieb eine Adresse auf. Dann ging Haydon in der gleichen kameradschaftlichen Tonart auf das ein, was Smiley die Details genannt hatte.
Er lehnte es ab, über irgendeine Einzelheit seiner Anwerbung oder seiner lebenslangen Verbindung zu Karla zu sprechen. »Lebenslang?« wiederholte Smiley prompt. »Wann lernten Sie ihn kennen?«
Die gestrigen Versicherungen erschienen plötzlich sinnlos, aber Haydon wollte nicht ausführlicher werden. Etwa von 1950 an hatte Haydon — wenn man ihm Glauben schenken konnte — Karla gelegentlich mit ausgewählten Geheiminformationen bestückt. Diese frühen Zuwendungen beschränkten sich auf solche Enthüllungen, die seiner Ansicht nach die russischen Interessen gegenüber den Vereinigten Staaten direkt fördern würden; er hatte »streng darauf geachtet, ihnen nichts zu geben, was uns selber schaden könnte«, wie er sich ausdrückte, oder was den Außenagenten hätte schaden können.
Das Suez-Abenteuer von '56 hatte ihn endgültig von der Unhaltbarkeit der britischen Situation überzeugt und von dem Talent Englands, den Gang der Geschichte zu hemmen, während es andererseits nicht in der Lage war, positive Beiträge zu leisten. Das Erlebnis, wie die Amerikaner das britische Eingreifen in Ägypten sabotierten, war paradoxerweise ein weiterer Beweggrund. Deshalb würde er sagen, daß er von '56 an ein überzeugter hundertprozentiger sowjetischer Maulwurf war. 1961 bekam er die sowjetische Staatsbürgerschaft und im Verlauf der folgenden zehn Jahre zwei sowjetische Orden - kurios, er wollte nicht sagen, welche, betonte jedoch, daß sie »erste Klasse« seien. Leider beschränkten Einsätze in fernen Ländern während dieser Zeit seinen Zugriff; und da er darauf bestand, daß nach seinen Informationen wenn irgend möglich auch praktisch zu handeln sei -»daß sie nicht bloß in irgendeinem blöden Sowjetarchiv verschimmeln«, war seine Arbeit sowohl gefährlich wie qualitativ unterschiedlich. Bei seiner Rückkehr nach London schickte Karla ihm Polly (offenbar der Haus-Name für Poljakow), als Gehilfen, aber Haydon fand den ständigen Druck der heimlichen Zusammenkünfte auf die Dauer schwer erträglich, vor allem, wenn er die von ihm fotografierten Materialmengen bedachte. Er lehnte es ab, über Kameras, Ausrüstung, Bezahlung oder handwerkliche Verfahren während dieser Vor-Merlin-Periode in London zu sprechen, und Smiley war sich die ganze Zeit dessen bewußt, daß sogar das Wenige, was Haydon ihm erzählte, mit äußerster Sorgfalt aus einer größeren und vielleicht anderen Wahrheit herausgesucht war.
Inzwischen erhielten sowohl Karla wie Haydon Hinweise, wonach Control Unrat wittere. Gewiß, Control war krank, aber es war völlig klar, daß er niemals freiwillig die Zügel aus der Hand geben würde, wenn die Möglichkeit bestand, daß er mit Karla den Geheimdienst zum Geschenk machte. Es war ein Rennen zwischen Controls Nachforschungen und seiner Gesundheit. Zweimal wäre er um ein Haar fündig geworden - wiederum lehnte Haydon ab zu sagen, wie, und wenn Karla nicht unverzüglich reagiert hätte, wäre der Maulwurf Gerald in die Falle gegangen. Aus dieser nervenaufreibenden Situation war zuerst Merlin entstanden und schließlich die Operation Testify, Witchcraft war in erster Linie geschaffen worden, um die Nachfolge zu sichern: um Alleline zum Thronanwärter zu machen und Controls Abgang zu beschleunigen. Zweitens verschaffte Witchcraft natürlich der Zentrale völlige Verfügungsgewalt über das nach Whitehall gelangende Material. Als drittes - und in der Folge wichtigstes Ergebnis, betonte Haydon - machte Witchcraft den Circus zu einer wichtigen Waffe gegen das amerikanische Ziel.
»Wieviel von dem Material war echt?« fragte Smiley. Selbstverständlich variierte das Niveau je nachdem, was man zu erreichen beabsichtigte, sagte Haydon. Theoretisch war die Herstellung sehr einfach: Haydon mußte Karla nur benachrichtigen, auf welchen Gebieten Whitehall keine Informationen besaß, und die Hersteller schrieben prompt darüber. Ein paarmal, sagte Haydon, habe er einfach aus Spaß selber einen Bericht geschrieben. Es war eine amüsante Übung, die eigene Arbeit zu erhalten, auszuwerten und zu verteilen. Die Vorteile Witchcrafts für interne Arbeitsmöglichkeiten waren natürlich unschätzbar. Haydon wurde dadurch praktisch Controls Zugriff entzogen und hatte eine gußeiserne Tarngeschichte, um Polly so oft zu treffen, wie er wollte. Häufig vergingen Monate, ohne daß sie einander sahen. Haydon fotografierte Circus-Dokumente in der Abgeschlossenheit seines Büros - offiziell bereitete er die Abfallprodukte für Polly vor -, gab sie, zusammen mit einem weiteren Haufen wertlosen Zeugs Esterhase und ließ sie von ihm zu dem sicheren Haus < im Lock Gardens befördern. »Es war ein klassisches Spiel«, sagte Haydon schlicht. »Percy führte, ich folgte, Roy und Toby übernahmen die Lauferei.« Hier fragte Smiley höflich, ob Karla je daran gedacht habe, Haydon selber den Circus übernehmen zu lassen: warum sich überhaupt mit einem Strohmann belasten? Haydon antwortete nicht, und Smiley stellte sich vor, daß Karla, genau wie Control, sehr wohl der Ansicht gewesen sein mochte, Haydon sei für eine untergeordnete Rolle besser geeignet.
Die Operation Testify, sagte Haydon, sei eine Art Verzweiflungstat gewesen. Haydon war überzeugt, daß Control der Wahrheit schon sehr nahe gekommen sei. Eine Analyse der Akten, die er sich kommen ließ, ergab ein beunruhigendes komplettes Inventar der Operationen, die Haydon hatte hochgehen lassen oder anderswie zum Platzen gebracht hatte. Ferner war es Control gelungen, das Feld auf Beamte eines bestimmten Alters und Dienstrangs zu beschränken ...
»War übrigens Stevceks ursprüngliches Angebot echt?« fragte Smiley.
»Lieber Himmel, nein«, sagte Haydon echt schockiert. »Es war von Anfang an eine Falle. Natürlich gab es Stevcek wirklich. Er war ein hoher tschechischer General. Aber er hat nie irgend jemandem ein Angebot gemacht.«