Rasch - und ohne auf die sonderbaren Blicke zu achten, die mir der eine oder andere zuwarf, denn mein seltsames Verhalten war keineswegs unbemerkt geblieben - ging ich weiter. Äußerlich war ich halbwegs gefasst, aber in mir sah es ganz anders aus. Ich war niemals ein sehr mutiger Mensch, aber auch alles andere als ein Feigling. Jetzt aber hatte ich Angst. Nicht mehr die lodernde Panik wie vor wenigen Minuten oder in der vergangenen Nacht, sondern eine schleichende, bohrende Furcht, die auf ihre Art viel schlimmer war. Ich fragte mich, wem ich noch trauen konnte. Ob ich jemals wieder durch eine Tür treten würde, ohne mich zu fragen, was dahinter auf mich wartete ... ob ich die Angst jemals im Leben wieder loswerden würde. Und das war es, was mir der Mann mit den kalten Augen und seine Begleiter vergangene Nacht wirklich angetan hatten: Nichts war mehr, wie es gewesen war. Washington D.C., das Weiße Haus, Capitol Hilclass="underline" Sie hatten diese Bollwerke der freien Welt - die bisher für mich gleichermaßen auch Bollwerke gegen genau diese Welt gewesen waren - der Furcht ausgeliefert. Zum ersten Mal, seit ich dieses ehrwürdige Gebäude aus weißem Marmor und Geschäftigkeit betreten hatte, fühlte ich mich in seinen Mauern nicht geborgen und unangreifbar, sondern ausgeliefert; ein Gefangener der Schatten, die in seinen Winkeln und Ecken nisteten.
Ich versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Ich hatte Angst, was nach der vergangenen Nacht nur zu verständlich war, und ich war mit Recht verunsichert und nervös, aber ich musste aufpassen, nicht vollends paranoid zu werden. Ich versuchte, mich am Anblick der vertrauten Gänge und Treppen festzuklammern, Trost in einem bekannten Gesicht zu finden, einem beiläufigen Guten Morgen oder auch nur einem Blick, irgendeine banale Kleinigkeit, der ich vertrauen konnte.
Es wurde nicht besser. Ganz im Gegenteil. Als ich mein Büro betrat, wurde es schlimmer.
Auf meinem Schreibtisch lag ein brauner Umschlag. Das Postkörbchen aus Draht, das pedantisch auf der rechten äußeren Kante des Tisches stand, war noch leer; die tägliche Post war noch nicht durch. Ich fragte mich beiläufig, was um alles in der Welt so früh am Morgen so wichtig sein konnte, dass jemand sich eigens die Mühe machte, einen Boten in mein Büro zu schicken, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken darauf, sondern legte den Umschlag erst einmal zur Seite. In meiner Aktentasche wartete eine Aufgabe auf mich, die keinen Aufschub duldete. Ich hatte mir in der Nacht bereits Notizen gemacht, um den abschließenden Bericht für Congressman Pratt zu schreiben - Marcs drei Seiten - und ich würde es jetzt tun. Nicht morgen, nicht über Weihnachten zu Hause, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte, oder in den Tagen danach, sondern heute, jetzt, bevor ich Zeit fand, nachzudenken und vielleicht doch noch etwas zu tun, das Kim und mich in Gefahr bringen konnte. Ich breitete meine Notizen und hingekritzelten Stichworte vor mir aus, nahm ein weißes Blatt Papier zur Hand, legte es wieder weg, ergriff es erneut und gewann noch einmal einige Sekunden damit, das halbe Dutzend Bleistifte aus der Federschale zu nehmen und anzuspitzen.
Tatsache war, ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Noch vor vierundzwanzig Stunden wäre es mir ein Leichtes gewesen, einen Bericht zu verfassen, der ganz genau so war, wie Congressman Pratt ihn von mir erwartete; bevor ich Friend, die Hills und die Männer im Wald getroffen hatte. Jetzt ...
Ich musste nur schreiben, was ich noch vor einem Tag fast wortwörtlich im Kopf gehabt hatte. Aber ich konnte es nicht.
Wenn ich diesen Bericht verfasste, wenn ich aus den Lügen Wahrheit machte, indem ich sie niederschrieb, dann würde ich selbst zu einem jener Männer im Helikopter werden. Ich hatte keine andere Wahl, schon um Kimberleys willen. Das nächste Mal machen wir einen Hausbesuch. Aber ich konnte es nicht.
Wenigstens jetzt noch nicht.
Ich legte den Stift wieder aus der Hand, griff erneut nach dem braunen Umschlag - aus keinem anderen Grund als dem, noch einmal Zeit zu gewinnen - und öffnete ihn. Und die Erde tat sich unter mir auf, um mich zu verschlingen. Sie hatten bereits einen Hausbesuch gemacht.
Der braune Umschlag enthielt meinen Bericht.
Ich hatte den Aktendeckel mit dem rosafarbenen Aufkleber nie zuvor im Leben gesehen, aber der Text darauf war eindeutig mit meiner Schreibmaschine getippt, der altersschwachen Typemate mit dem kleinen »n«, das immer nach rechts unten ausbrechen wollte, als hätte es nicht die Kraft, sich auf der Zeile zu halten, und die Worte, die die Buchstaben bildeten, waren noch eindeutiger:
Von: John Loengard
An: Charles Pratt
Betrifft: Projekt Blue Book
Mit zitternden Händen begann ich die Akte durchzublättern. Sie enthielt genau drei Blätter - die drei Seiten, um die Marc mich gebeten hatte! -, und es war mein Bericht. Ich hatte ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen, aber das spielte keine Rolle. Die Fälschung war perfekt. Sie war nicht nur auf meiner Schreibmaschine geschrieben, sondern auch mit dem für mich typischen, unregelmäßigen Anschlag, mit meiner Wortwahl, meinem Satzbau und - aber das überraschte mich kaum noch - meiner eigenhändigen Unterschrift auf der letzten Seite.
Davon abgesehen war der Text ungefähr zehnmal besser, als ich es jemals zu Stande gebracht hätte.
Ich saß länger als eine Minute da und starrte die drei engbeschriebenen Blätter an. Ich weiß nicht mehr genau, was ich empfand: Schreck, Erstaunen, Zorn, Entsetzen; sicherlich von alledem etwas, aber vor allem dies: ein Gefühl hilfloser Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, das schlimmer war als alles andere zuvor. Jeder Schritt, den ich in den letzten drei Monaten getan hatte, war auf diesen drei Blättern vermerkt, jedes Gespräch, das ich geführt, jede Akte, die ich gelesen hatte.
Sie waren die ganze Zeit über bei mir gewesen. Ich fühlte mich so hilflos und ausgeliefert, als stünde ich nackt im Zentrum eines Scheinwerferstrahls auf den Stufen des Weißen Hauses.
Ich bemerkte kaum, dass jemand hinter mich trat und mir über die Schulter sah. Erst, als Simonson die Hand ausstreckte und mir die Akte wortlos aus den Fingern nahm, schrak ich zusammen. Ganz automatisch versuchte ich, ihm den Hefter wieder abzunehmen, aber er wich mir mit einer geschickten Bewegung aus, warf einen Blick auf den Aktendeckel und verzog in einer Mischung aus Erstaunen und Anerkennung das Gesicht.
»Projekt Blue Book? Du bist schon fertig damit.«
»Kann ich das ... bitte wiederhaben, Marc?« fragte ich.
Meine Stimme wollte mir nicht gehorchen. Ich fühlte mich unwirklich, als wäre ich nicht ich selbst, sondern nur ein Beobachter, den das alles nichts anging, und der nur rein zufällig hier war. Ich hätte mir gewünscht, es wäre so.
Simonson dachte nicht daran, mir den Aktendeckel zurückzugeben, aber er sah mich ein zweites Mal und sehr viel aufmerksamer an und sagte: »Du siehst nicht gut aus. Hast du schlecht geschlafen?«
»Bitte gib mir die Mappe zurück«, sagte ich noch einmal. Was er natürlich nicht tat. Er begann ganz im Gegenteil in dem Bericht zu lesen, und ich hätte den verblüfften Ausdruck gar nicht mehr sehen müssen, der sich dabei auf seinem Gesicht auszubreiten begann, um zu wissen, was er dabei empfand.
»Kein Wunder, dass du aussiehst wie der Tod auf Latschen«, sagte er. »Ich wette, du hast die ganze Nacht über daran gearbeitet.«
»Marc«, sagte ich leise. »Dieser Bericht ...«
»... ist fantastisch«, unterbrach mich Simonson. »Ich meine das ernst. Er ist großartig! Präzise, knapp, informativ ...«
»... und nicht von mir«, führte ich den Satz zu Ende.
Marc blinzelte. Dann lachte er nervös. »Was soll das heißen?«
Jetzt, als es heraus war, fühlte ich mich unendlich erleichtert. Ich wusste, dass es ein Fehler war, vielleicht der schlimmste (vielleicht der letzte?) Fehler, den ich jemals begangen hatte, aber ich konnte nicht anders. Trotzdem sah ich mich hastig nach allen Seiten um und senkte die Stimme, als ich antwortete: »Ich habe das nicht geschrieben.«