»Du siehst großartig aus, Schatz«, sagte ich. »Aber für wen putzt du dich so heraus?«
Es sollte ein Scherz sein, und sie lachte auch, aber es klang nicht ganz echt. Auch alles andere als falsch, aber eben nicht ganz echt. »Das, Schatz«, antwortete sie lachend, aber wie ich fand, auch um eine Nuance zu spitz, »geht dich nichts an.«
»Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?« fragte ich. »Oder besser gesagt: Gibt es da irgendjemanden in deinem Leben?«
»Auch das geht dich nichts an, Liebling«, antwortete sie mit einem zuckersüßen Lächeln. »Wozu sind Geheimnisse gut, wenn man sie jedem sofort verrät?«
»Dann wären es keine Geheimnisse mehr«, pflichtete ich ihr bei. Der Klang meiner eigenen Stimme gefiel mir nicht, ebenso wenig wie das Lächeln, mit dem sie darauf reagierte. Kim sagte jedoch nichts mehr, sondern schlenderte in die Küche, nahm Tasche und Handschuhe vom Tisch und wandte sich dann zur Tür.
»Warte nicht auf mich«, sagte sie. »Es könnte später werden.«
»Du hast Geheimnisse«, sagte ich grimmig.
Kimberley blieb stehen, drehte sich noch einmal herum und sah mich auf eine Art an, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen strafte. »Hat die nicht jeder?« fragte sie. »Seine kleinen Geheimnisse, meine ich?«
Sie wusste es. Ich war sicher, keinen Fehler begangen zu haben. Kein verräterisches Schweigen im falschen Moment, keine Ausflucht und keinen Widerspruch, in den ich mich verwickelte; ich hatte in den letzten Wochen zu meiner eigenen Überraschung festgestellt, dass ich wohl doch ein talentierterer Lügner war, als ich glaubte. Trotzdem wusste sie es. Vermutlich spürte sie einfach, dass ich ihr irgendetwas verheimlichte.
Für einen ganz kurzen Moment war ich nahe daran, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Was hatte ich zu verlieren? Was immer sie vermuten mochte, konnte nur schlimmer sein als die Wahrheit; zumindest für unsere Beziehung. Ich würde ihr die Wahrheit sagen. Jetzt.
Das Telefon klingelte. Beinahe hastig griff ich nach dem Hörer, riss ihn von der Gabel und meldete mich.
»Simonson«, sagte Marc. »Ich bin es, John. Marc. Du ...«
»Eine Sekunde, Marc«, unterbrach ich ihn. Rasch hielt ich den Hörer zu, wandte mich an Kim und sagte: »Es ist für mich. Einen schönen Abend, Schatz.«
Kimberley wirkte enttäuscht. Offensichtlich war ihr nicht entgangen, dass ich ihr irgendetwas hatte mitteilen wollen, und sie wertete den Anruf als genau das, was er war: ein willkommener Anlass, es nicht zu tun.
Ich wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, ehe ich die Hand wieder herunternahm und mich meldete. »Marc?«
»Der Fernseher«, sagte Simonson. »Schalt ihn ein. Kanal sechs.«
In seiner Stimme war etwas, das mich davon abhielt, irgendeine Frage zu stellen. Rasch ging ich zum Fernseher, schaltete auf den entsprechenden Kanal und trat wieder zwei Schritte zurück. Auf dem Bildschirm war eine Gruppe von vier oder fünf Männern zu sehen, die dicht beieinander auf einer nächtlichen Brücke standen und sich leise, aber offenbar sehr erregt miteinander unterhielten. Alle waren winterlich gekleidet, und hier und da waren noch Reste von zusammengebackenem Schneematsch zu erkennen. Weiter hinten standen weitere Männer. Sie waren mit Gewehren bewaffnet und trugen dicke Winteruniformen. Keine amerikanischen.
Nichts davon interessierte mich. Für einen Moment hatte ich sogar Mühe, der Stimme der Nachrichtensprecherin zu folgen, die die Bilder kommentierte. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mann, der ein wenig hinter den anderen stand, wie zufällig so, dass sein Gesicht nicht ganz deutlich zu erkennen war. Trotzdem erkannte ich ihn sofort.
Es war Bach.
»... heute Nacht auf der Glienicker Brücke statt«, sagte die Kommentatorin gerade. »Lieutenant Gary Powers, dessen Flugzeug vor zwei Jahren über dem Territorium der UdSSR abgeschossen wurde, kam im Austausch für ...«
Bach. Es war Bach. Der Mann aus dem Wald. Das Gesicht aus der TOP-SECRET-Akte, die ich gestohlen hatte. Langsam ging ich zurück zum Telefon, ohne den Fernseher dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Meine Hände zitterten leicht, als ich nach dem Hörer griff.
»Das ist Bach, richtig?« fragte Marc. »Der Mann im Hintergrund, direkt neben Powers.«
»Ja«, antwortete ich. »Aber was macht er in Berlin?«
»Das interessiert mich nicht, John«, sagte Simonson, aber ich ignorierte ihn einfach.
»Powers!« sagte ich. »Powers muss auch etwas mit der Sache zu tun haben! Natürlich!«
»John, hör mir zu«, sagte Marc, aber ich sprach lauter und erregt weiter, ehe er noch irgendetwas sagen konnte.
»Aber überleg doch! Black Hawk! Geheime militärische Projekte! Und dieser Powers war Testpilot! Es ist ganz eindeutig!«
»John, hör auf«, sagte Marc. »Es spielt keine Rolle mehr.«
»Es spielt ... bist du verrückt? Das ist der Beweis, nach dem wir gesucht haben!«
»Ich bin draußen«, sagte Marc.
Ich schwieg ungefähr zwei Sekunden lang - obwohl ich tief in mir nicht einmal überrascht war. Nicht wirklich. »Wie bitte?«
»Die Sache ist ein paar Nummern zu groß für mich, John«, sagte Marc. »Und das sollte sie für dich auch sein.«
»Aber wieso?«
»Liest du keine Zeitungen?« fragte Marc. »Dieser Powers ist nicht nur gegen irgendwelche russischen Spione ausgetauscht worden! Kennedy selbst hat die Sache mit Chruschtschow ausgehandelt, ist dir das eigentlich klar? Das hier hat nichts mehr mit geheimen militärischen Kungeleien zu tun! Es geht hier nicht um irgendwelche getarnten Budgets.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber genau das ...«
»Es ist aus, John«, sagte Marc. »Ich habe Frau und Kinder. Es ist vorbei, hörst du? Vorbei.«
Er hängte ein. Auf dem Fernsehschirm lief der Bericht über Powers Freilassung weiter, aber ich hörte immer noch nicht wirklich zu. Ich starrte Bach an. Er verstand es immer geschickt, sich im Hintergrund zu halten, so dass er in keiner Sekunde wirklich genau zu erkennen war. Aber es gab auch keine einzige Aufnahme, auf der er nicht aufgetaucht wäre. Seine dunklen, gefühllosen Augen schienen mich über den Bildschirm hinweg spöttisch anzuschauen, als hätte er ganz genau gewusst, dass ich hier und jetzt dastehen und diese Bilder betrachten würde.
Und dann wusste ich, was ich zu tun hatte.
Es kostete mich zwei Anrufe, um herauszufinden, wann Lieutenant Powers und seine Begleiter in Washington eintrafen. Wie sich zeigte, war dies bereits am nächsten Nachmittag der Fall. Ich hatte ursprünglich vor, Powers direkt am Flughafen abzufangen, gab diese Idee aber schon wieder auf, als ich die Ankunftshalle betrat. Sie wimmelte von Journalisten, Fotografen, Kamerateams und Neugierigen. Es gab ein erstaunliches Aufgebot an Sicherheitskräften, die wohl den Auftrag hatten, Powers und seine Begleiter abzuschirmen. Ich hatte keine Chance, an Powers heranzukommen; und schon gar nicht an Bach. Ich machte auf der Stelle kehrt und fuhr ins Capitol zurück. Powers würde vom Hughafen aus direkt dorthin gebracht werden, um später am Abend mit dem Präsidenten zu sprechen.
Auch das Capitol war von der Presse nicht verschont geblieben. Auf dem Flur, über den der Nationalheld dieses Tages kommen würde, waren bereits drei Fernsehkameras aufgebaut worden, und mindestens ein Dutzend Journalisten lümmelte in den Ecken und auf den unbequemen hölzernen Bänken herum und vertrieb sich auf die eine oder andere Weise die Zeit. Trotzdem war das Sicherheitspersonal hier in der Überzahl. Das Capitol war ein öffentliches Gebäude und jedermann frei zugänglich, aber das war selbst damals nur noch Theorie. In der Praxis war diese gesamte Etage hermetisch abgeriegelt, und die anwesenden Journalisten und Kameramänner handverlesen. Wie gut, dass ich in diesem Gebäude arbeitete. Ich mischte mich unauffällig unter die Reporter und fasste mich in Geduld.
Es bedurfte einer ganzen Menge mehr Geduld, als ich erwartet hatte. Eine Stunde verging, dann eine zweite und noch ein guter Teil der nächsten. Nicht nur die versammelte Journalistenmeute, sondern auch ich begann allmählich unruhig zu werden. Nach dem, was ich am Hughafen gesehen hatte, hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass Powers seinen Zeitplan einhalten würde. Doch statt der erwarteten Stunde vergingen annähernd drei, bis er schließlich erschien.