Es war kein Mensch. Aber es war auch kein Tier. Das Geschöpf ähnelte nichts, was ich jemals zuvor gesehen hatte.
Es lag in einer verkrümmten, fast embryonalen Haltung auf dem verchromten Metall der Schublade, so dass es schwer war, seine Größe zu schätzen, aber aufgerichtet konnte das Wesen kaum größer sein als ein zehn- oder zwölfjähriges Kind. Es war von humanoider Gestalt - das hieß, es hatte zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf. Trotzdem hatte es keinerlei Ähnlichkeit mit einem Menschen. Seine Glieder waren so dünn, dass es schon fast grotesk wirkte, und der Kopf war im Verhältnis zum Körper viel zu groß. Unter der sandbraunen Haut schien kein Fleisch zu sein, sondern nur kantige Knochen. Der Mund war klein und dreieckig, wie bei einem Insekt, und die leeren Augenhöhlen wirkten selbst in dem überproportionierten Schädel riesig. Hände und Füße hatten jeweils sechs Finger und Zehen, und der Körper musste schwer verletzt oder seziert worden sein, denn er war über und über mit Nähten bedeckt. Das Wesen war unbeschreiblich hässlich.
Aber das war nicht das Schlimme.
Was mich mit Entsetzen erfüllte, das war das, was ich bei seinem Anblick fühlte.
Dieses Ding war ... böse.
Es war tot, nur ein Stück lebloses Fleisch, das von der Kälte und den Chemikalien vor der Verwesung bewahrt wurde, und trotzdem strömte es einen fast greifbaren Odem von Feindseligkeit und Gefahr aus. Dieses Geschöpf stammte nicht von dieser Welt, und es gehörte nicht in diese Welt. Es war gefährlich, feindselig und durch und durch bösartig. Das Gefühl - nein: das Wissen - war so übermächtig, dass ich stöhnend zurücktaumelte und mich mit einem Ruck herumdrehte. Für einen Moment wurde mir schwindelig. Bittere Galle sammelte sich unter meiner Zunge. Ich schluckte krampfhaft und bemühte mich, die Übelkeit niederzuringen, die aus meinem Magen emporstieg.
»Machen Sie sich nichts daraus, John«, sagte Bach. Ich hörte, wie er die Schublade schloss. »So geht es allen. Sie sollten erst einmal mit jemandem sprechen, der einem Lebendigen begegnet ist.«
»Soll ... soll das heißen, Sie haben ein solches ... Ding lebendig gefangen?« krächzte ich.
Bach kam mit schnellen Schritten um den Tisch herum und sammelte seine Fotos ein. »Es funktioniert folgendermaßen, John«, sagte er. »Sie werden mit niemandem über das sprechen, was Sie hier gesehen haben. Weder mit Ihren Freunden, noch mit Ihren Kollegen oder Ihrem Vorgesetzten, nicht einmal mit Ihrer Freundin. Majestic ist ein sehr exklusiver Club, John. Niemand weiß von seiner Existenz, und wir achten streng darauf, dass das so bleibt.«
»Ein Club?« Ich hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie um die Aufnahme gebeten zu haben.«
»Und niemand tritt aus ihm aus«, fuhr Bach ungerührt fort. »Sie gehören dazu, John. Sie selbst haben das Aufnahmeformular ausgefüllt, John. Jeder Tag, an dem Sie nach uns gesucht haben, war ein Klopfen an unsere Tür. Jetzt haben wir aufgemacht. Es tut mir leid, wenn Ihnen das, was Sie gefunden haben, nicht gefällt, aber diese Tür öffnet sich nur in eine Richtung. Sie gehören dazu.«
»Sie wollten, dass ich Sie finde«, sagte ich zornig.
»Sagen wir: Ich habe Ihnen erlaubt, es zu versuchen«, antwortete Bach. »So, wie ich Ihnen erlaubt habe, mit den Hills zu reden.«
»Dann gehört Friend ...«
»Ich sagte Ihnen bereits, dass wir uns ähnlich sind, John«, unterbrach mich Bach. »Sie und ich, wir suchen beide nach der Wahrheit. Sie würden sich niemals mit einer Ausrede zufrieden geben, oder die Augen vor etwas verschließen, was Sie erschreckt. Wir brauchen Leute wie Sie.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Schublade, in der der Leichnam des Außerirdischen lag. »Deshalb.«
»Sie sind ... feindselig, nicht wahr?« fragte ich. »Ich meine, sie ... sie sind nicht nur aus Forscherdrang hier oder um uns zu besuchen.«
»Helfen Sie uns, es herauszufinden«, sagte Bach.
»Und wenn ich nicht will?«
Bach machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.
Ich kam an diesem Abend später als gewöhnlich nach Hause. Ich hatte eine Million Fragen, aber ich hatte Bach keine einzige davon gestellt, und ich wusste auch, dass er nicht eine einzige beantwortet hätte. Bach war kein Mann, der Antworten gab. Er erwartete Antworten, und er gab Informationen preis, wenn er glaubte, dass es notwendig war oder ihm einen Vorteil einbrachte.
Wahrscheinlich hätte ich mit seinen Antworten ohnehin nichts anfangen können. Ich hatte Majestic in einem schwer zu beschreibenden Zustand verlassen. Bach hatte mich nicht auf dem gleichen Wege wieder hinausgebracht, aber ich hätte nicht einmal mehr sagen können, wie. Ich fühlte mich ... unwirklich. Wie in einem jener schrecklichen Alpträume gefangen, in denen man ganz genau weiß, dass man träumt, ohne dass dieses Wissen einem dabei hilft, mit der Angst fertig zu werden oder gar aufzuwachen. Stundenlang war ich durch die Stadt geirrt, ohne zu wissen, wohin ich ging oder wo ich mich befand. Es war wie eine Trance gewesen, aber eine unangenehme, böse Trance, die an den Kräften zehrte und mich ausgebrannt und leer zurückließ.
Wir sind nicht allein.
Das war der einzige, klar formulierte Gedanke, zu dem ich fähig war.
Wir waren nicht allein. Sie waren bei uns. Irgendwo dort oben, vielleicht jenseits des Mondes, vielleicht noch weiter draußen, irgendwo in der unendlichen, kalten Leere des Weltraums. Sie waren dort oben und beobachteten uns.
Aber sie waren nicht unsere Freunde. Die weisen Brüder aus dem Kosmos existierten nicht. Sie waren nicht gekommen, um uns zu helfen. Um den Krebs zu besiegen, den Hunger auf der Welt abzuschaffen und die Kriege zu beenden. Sie waren irgendwo dort draußen, aber sie beobachteten uns nicht.
Sie warteten.
Ich wusste nicht worauf, aber ein einziger Blick auf den Körper des toten Außerirdischen hatte mir eines jenseits aller Zweifel klargemacht: es würde nichts Gutes sein.
Erst nach Einbruch der Nacht stieg ich die Treppe zu unserem Apartment hoch und zog den Schlüssel aus der Tasche. Kimberley war bereits zu Hause. Ich sah Licht unter der Tür, und ich konnte gedämpfte Musik aus dem Fernseher hören.
Ich blieb stehen. Sie würde mich fragen, wo ich gewesen war, und ich wusste einfach nicht, was ich antworten sollte. Ich hasste Bach. Ich hasste ihn aus tiefstem Herzen, weil er mir dieses ungeheuerliche Geheimnis anvertraut hatte, das ich mit niemandem teilen konnte, und ich hasste diese namenlosen Kreaturen von den Sternen, die durch ihre bloße Anwesenheit mein Leben von einem Sekundenbruchteil auf den anderen in ein Chaos verwandelt hatten.
Ich würde nicht schweigen können. Nicht Kim gegenüber. Sie würde mich anblicken und sofort erkennen, dass da etwas war, das ich ihr verheimlichte, und ich würde dieses Geheimnis nicht für mich behalten können. Es war zu monströs.
Unsicher schob ich den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn halb herum und hätte ihn um ein Haar abgebrochen, denn die Tür wurde von innen geöffnet, bevor ich die Bewegung zu Ende führen konnte.
Nein, nicht geöffnet: aufgerissen, und Kim sprang mit einem Satz heraus, fiel mir im wahrsten Sinne des Wortes um den Hals und zerrte mich so überschwänglich zu sich herein, dass ich ins Stolpern kam und um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.
»John! Endlich! Wo bist du nur gewesen?! Du glaubst nicht, wen ich gestern getroffen habe!« Sie umarmte mich so stürmisch, dass mir die Luft wegblieb, wirbelte mich im Kreis herum und zerrte mich so ungestüm hinter sich her, dass ich abermals Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals zuvor so aufgedreht erlebt zu haben.
»Wo bist du nur gewesen? Ich bin fast gestorben vor Ungeduld, dir die Neuigkeit zu erzählen, und du hast nicht einmal angerufen!«
»Ich hatte ...«, begann ich, aber Kimberley ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern plapperte lachend und aufgekratzt bis an den Rand der Hysterie fort: »Du erinnerst dich doch, dass du mich gestern Abend gefragt hast, für wen ich mich so herausputze. Jackie. Ich habe Jackie getroffen.«