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Verglichen mit ihr hatte ich geradezu das große Los gezogen. Ich verdiente zwar nicht nennenswert mehr als sie, aber ich hatte einen Job im Capitol - nicht im übertragenen, sondern im wortwörtlichen Sinne: Ich war der persönliche Assistent eines leibhaftigen Kongressabgeordneten. Kein Zweifel, dass ich in spätestens zwei Jahren auf seinem Stuhl sitzen und nach spätestens einem weiteren Jahr für das Amt des Gouverneurs kandidieren würde.

Der einzige Wermutstropfen war vielleicht, dass Congressman Pratt ungefähr fünfzig persönliche Assistenten hatte, und die meisten davon mindestens genauso ehrgeizig waren wie ich, aber schon etliche Jahre länger dabei. Ich gab es Kimberley gegenüber nicht zu - wenigstens am Anfang nicht -, aber meine Arbeit bestand zum allergrößten Teil darin, Kaffee zu holen, Sandwiches und Donuts zu besorgen und Verbindungen aus Flug- und Amtrak-Plänen herauszusuchen.

Zumindest mein Büro war imposant. Es hatte gute hundert Quadratmeter, holzvertäfelte Wände und eine beeindruckende Aussicht über halb Washington, und es lag nicht nur auf dem gleichen Flur, sondern direkt gegenüber von Pratts Büro. Unglücklicherweise musste ich es mir mit ungefähr dreißig anderen persönlichen Assistenten des Kongressabgeordneten teilen, aber, wie gesagt: Alles konnte man schließlich nicht haben. Ich ließ mir weder Kim, noch einem meiner Kollegen oder gar mir selbst gegenüber irgendetwas von der Enttäuschung anmerken, die sich im Laufe der folgenden Wochen in mir breit machte, sondern wartete auf meine Chance.

Sie kam an einem Tag im Spätherbst, und auf eine so harmlose und beiläufige Art, dass ich sie fast nicht erkannt hätte. Im Grunde war es ein Zufall, eine belanglose Kleinigkeit, über die ich mich im ersten Moment nur ärgerte. Aber es sind oft die scheinbar belanglosen Nebensächlichkeiten, die den Stein ins Rollen bringen, der sich später zu einer gewaltigen Lawine auswächst. Was man oft erst im Nachhinein begreift. In meinem Fall war dieser Stein eine Kombination aus der Bewegung einer Pendeltür und meiner eigenen Unaufmerksamkeit, und die Lawine war ein Schwall brühheißen Kaffees, der sich über meinen rechten Arm, die Jacke und meine Weste ergoss und auch noch gerade eben ausreichte, meiner Hose ein Ticket für die nächste chinesische Wäscherei zu besorgen. Einige Sekunden lang stand ich einfach nur missmutig da und starrte an mir herab. Ich war nicht sicher, was ich schlimmer finden sollte: den brennenden Schmerz auf meinem Handrücken (der Kaffee war wirklich heiß gewesen) oder der Gedanke an Kimberleys vorwurfsvolle Blicke am Abend, wenn ich ihr den verdorbenen Anzug präsentierte. Unser Haushaltsetat war knapp kalkuliert. Mehr als eine Wäschereirechnung pro Woche war einfach nicht darin vorgesehen.

»Probleme, John?«

Ich musste mich nicht herumdrehen, um Simonsons schadenfrohes Grinsen zu sehen. Ich konnte es regelrecht hören. Simonson war ein netter Kerl; einer der wenigen meiner Kollegen - wenn nicht der Einzige -, der sich vielleicht einmal zu so etwas wie einem Freund entwickeln konnte. Ich schätze, umgekehrt ging es ihm ähnlich. Er war gute zehn Jahre älter als ich; nicht alt genug, um mein Vater zu sein, aber vermutlich, um so etwas wie einen Beschützerinstinkt zu entwickeln. Ein naiver junger Bursche wie ich, der geradewegs aus der Provinz kam und den Kopf voller Flausen hatte und den er unter seine Fittiche nehmen konnte, war anscheinend genau das, was er schon lange gesucht hatte, um sein Ego aufzupolieren. Trotzdem war er wirklich ein netter Kerl - wenn er nicht einen so übertriebenen Hang zur Schadenfreude gehabt hätte.

Jedenfalls kam er mir im Moment entschieden übertrieben vor.

Ich starrte ihn so finster an, wie ich nur konnte, schüttelte aber trotzdem den Kopf und sagte so gelassen wie möglich: »Nein. Wie kommst du darauf? Ich habe mir die Hand verbrüht, und Kim wird mich umbringen, wenn sie meinen Anzug sieht.« Ich hob den Kaffeebecher und trank die anderthalb Schlucke, die sich noch darin befanden, in einem Zug. »Und außerdem ist dieser Kaffee absolut scheußlich. Was sollte ich also für Probleme haben?«

Simonson lachte, aber diesmal klang es nicht schadenfroh, nicht einmal mehr echt. Die Art, auf die er mich ansah, wirkte sogar ein ganz kleines bisschen besorgt. Dann fragte er geradeheraus: »Was ist los mit dir?«

»Was soll los sein? Ich habe mir einen Becher Kaffee über den Anzug geschüttet. Nun ja ... immerhin etwas Aufregendes.«

»Na, dann koch ihn doch heute Abend aus.« Simonson grinste, wurde aber sofort wieder ernst. »Wenn du eine Schulter zum Ausweinen brauchst, stelle ich mich gerne zur Verfügung. Wie wär's, wenn wir heute Abend zusammen ein Bier trinken gehen - auf meine Kosten natürlich.«

»Das ist nicht ...«

»Es muss dir nicht peinlich sein«, unterbrach mich Simonson. »Glaubst du, ich kenne das nicht? Ich war auch einmal neu in dieser Stadt. Ich war auch einmal jung, und ich habe auch einmal eine Familie gegründet und von der großen Karriere geträumt. Washington ist ein teures Pflaster.«

Seine Worte waren mir peinlich. Nicht einmal, weil er offenbar so mühelos durch mich hindurchsah wie durch die Gläser seiner altmodischen Hornbrille, sondern weil sie eine Vertrautheit verströmten, die ihm allerhöchstens zugestanden hätte, wenn er wirklich mein Vater gewesen wäre oder aber mein zehn Jahre älterer Bruder.

»Das ist es nicht«, antwortete ich, ganz bewusst eine Spur schärfer, als nötig gewesen wäre, aber Simonson fuhr so vollkommen unbeeindruckt fort, als hätte ich gar nichts gesagt: »Ich weiß, wie du dich fühlst. Der große Katzenjammer, stammt's? Den kriegt jeder, früher oder später. Es ist ein mieser Job, er wird schlecht bezahlt, und man hat das Gefühl, auf der Stelle zu treten.« Er zuckte mit den Schultern. »Da musst du durch. Es ist gar nicht so schlecht. Früher oder später bekommt jeder eine Chance.«

»Aber darum geht es gar nicht«, widersprach ich. »Ich bin jetzt seit fast drei Monaten hier, und alles, was ich tue, ist Kaffee holen, Fahrpläne wälzen und Briefe frankieren!«

Simonson widersprach nicht. Aber das lag wohl weniger an meinem scharfen Ton als vielmehr daran, dass ich ihm mit jedem Wort Recht gegeben hatte; wenn auch, ohne es zu wollen. Aber verdammt, er hatte Recht! Ich war nach Washington gekommen, um die Welt zu verändern, nicht um zu lernen, wie man Zehn- oder Zwanzig-Cent-Briefmarken am Geschmack unterschied!

»Warum ...«, begann Simonson, unterbrach sich mit einem erschrockenen Laut und schaffte es mit einem schnellen Schritt zur Seite gerade noch, einer weiteren Attacke der Schwingtür auszuweichen, der gerade mein Kaffee und mein Anzug zum Opfer gefallen waren. Niemand anderes als Congressman Pratt stürmte hindurch - wie üblich in Eile, wie üblich gerade eine Spur schlampiger gekleidet, als man es von einem Mann in seiner Position eigentlich erwartete, und wie üblich mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen gehetzter Eile und beginnendem Zorn schwankte. Ich hatte Pratt in den vergangenen Wochen buchstäblich unzählige Male gesehen, aber ich war mir bis zu diesem Moment nicht klar geworden, ob ich ihn nun sympathisch fand oder nicht. Aber das war nebensächlich: Er war mein Chef.

Pratt stockte mitten im Schritt. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich für eine Sekunde, als er die braunen Flecken auf meinem Hemd und meinem Anzug bemerkte, und vielleicht war jetzt der Moment gekommen, in dem er zum ersten Mal Notiz von mir nehmen würde. Ich bezweifelte, dass er überhaupt wusste, dass es mich gab. Dann aber schien er zu dem Schluss zu kommen, dass der Aufwand nicht lohnte: Er deutete ein Achselzucken an, drehte sich mit einer gekonnten Bewegung auf dem Absatz herum und wandte sich in kühlem Ton und mit einem vermutlich jahrelang geübten Muss-ich-denn-eigentlich-alles-selbst-machen-Blick an Simonson:

»Marc, da sind Sie ja! Haben Sie sich um diesen Brief vom Rechnungshof gekümmert, um den ich Sie gestern gebeten habe?«