Jetzt.
Ich zahlte meinen Kaffee, verließ das Restaurant und fuhr auf dem schnellstmöglichen Weg nach Hause. Ich fuhr schnell, aber nicht zu schnell. In Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit herrschte in der Stadt noch erstaunlich viel Betrieb: Auf den Straßen waren fast so viele Wagen wie tagsüber, und ich sah mehr als eine Gruppe von Männern und Frauen, die beieinander standen und aufgeregt miteinander diskutierten. Ich war wohl nicht der Einzige, dem die schlechten Nachrichten den Schlaf geraubt hatten. Das Radio in meinem Wagen ließ ich allerdings ausgeschaltet. Ich brauchte nicht noch mehr Hiobsbotschaften.
Was nicht hieß, dass ich sie nicht bekam.
Als ich in unsere Straße einbog, nahm mir ein schwarzer Mercury die Vorfahrt. Ich trat im letzten Moment auf die Bremse, entging mit kreischenden Reifen einem Auffahrunfall und hob wütend die Hand, um auf die Hupe zu schlagen.
Aber ich tat es nicht, denn in diesem Moment erkannte ich den Wagen.
Genauer gesagt: seinen Fahrer.
Es war Pratt.
Kongressabgeordneter Charles Pratt. Ich sah sein Gesicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ich erkannte ihn trotzdem ohne den geringsten Zweifel. Von seiner rücksichtslosen Fahrweise hatte ich schon gehört, aber es war das erste Mal, dass ich sie erlebte - und so ganz nebenbei auch das erste Mal, dass er sie einsetzte, um möglichst schnell zu dem Haus zu gelangen, in dem ich wohnte.
Nichts anderes war sein Ziel.
Ich wäre Pratt um ein Haar nun doch noch in den Wagen gefahren, als er warnungslos abbremste, und den Mercury mit einem brutalen Ruck am Lenkrad unmittelbar vor unserem Apartmenthaus zum Stehen brachte. Mit einer fast verzweifelten Bewegung wich ich ihm aus, drehte hastig das Gesicht nach links, damit Pratt nicht im Vorbeifahren seinerseits nun mich erkannte, und gab instinktiv wieder Gas. Der Wagen rasierte um Haaresbreite an Pratts Mercury vorbei, aber ich sah im Rückspiegel, wie Pratt ausstieg und sich herumdrehte, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen umkreiste er den Wagen und ging mit festen Schritten auf den Eingang des Apartmenthauses zu.
Ich widerstand im letzten Moment dem Impuls, anzuhalten und zurückzusetzen.
Tatsächlich fuhr ich sogar wieder ein wenig schneller und betätigte den Blinker, um an der nächsten Kreuzung rechts abzubiegen. Pratt hatte mich bisher nicht bemerkt und so sollte es auch bleiben. Trotzdem behielt ich ihn natürlich aufmerksam im Rückspiegel im Auge. Pratt verschwand im Eingang unseres Apartmenthauses, als ich die Kreuzung erreichte und abbog.
Ich gab mehr Gas und holte aus dem altersschwachen Chevy heraus, was ich nur konnte, während ich den Block umrundete. Was um alles in der Welt suchte Pratt in unserer Wohnung, und noch dazu mitten in der Nacht? Seit unserem Zusammenstoß waren Wochen vergangen. Pratt hatte in dieser Zeit das Einzige getan, was ihm noch übrig blieb - mich mit Missachtung gestraft. Wieso tauchte er ausgerechnet heute hier auf? Konnte es sein, dass der eingetretene Notfall ihm endlich die notwendigen Vollmachten beschert hatte, um mit mir abzurechnen? Und wenn ja, hatte er in einer Nacht wie dieser tatsächlich nichts Besseres zu tun, als seine gekränkte Eitelkeit zu rächen?
Es gab noch eine andere Erklärung. Aber sie war so absurd, dass ich mich im ersten Moment einfach weigerte, sie auch nur in Betracht zu ziehen.
Doch der Gedanke war nun einmal da, und er bohrte sich wie ein vergifteter Stachel immer tiefer in mein Bewusstsein. Pratt war unterwegs zu meiner Wohnung, während ich nicht Zuhause war. Wer sagte mir, dass er das das erste Mal tat? Kimberley hatte sich verändert, seit sie mit Pratt gesprochen hatte, und vielleicht war das kein Zufall.
Ich versuchte vergeblich, mir einzureden, dass ich ein Narr war, und nur grundlos eifersüchtig. Es nutzte nichts. Das Gefühl war einmal da, und es wurde mit jeder Sekunde stärker.
Trotzdem war ich noch geistesgegenwärtig genug, den Wagen wieder auf dreißig Meilen die Stunde herunterzubremsen, ehe ich den Block ganz umrandet hatte. Ich parkte nicht unmittelbar vor der Tür, sondern ein Stück weit entfernt und so, dass der Wagen von unserer Wohnung aus nicht gesehen werden konnte, und zwang mich, die wenigen Schritte zur Haustür langsamer als eigentlich notwendig zurückzulegen. Als ich vor der Tür unseres Apartments stand, waren ungefähr drei Minuten vergangen, seit Pratt das Haus betreten hatte.
Als ich den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, zitterten meine Hände so stark, dass ich für einen Moment innehalten musste. Ich war aufgebracht, aber mich selbst in der Rolle des wütenden Ehemannes zu sehen, der außer sich vor Wut die Tür eintrat, erschien mir selbst in diesem Augenblick noch zu lächerlich. So wartete ich, bis sich meine zitternden Hände wieder einigermaßen beruhigt hatten, schob den Schlüssel lautlos ins Schloss und schob die Tür ebenfalls lautlos auf.
Pratt war in der Wohnung.
Ich konnte seine und Kimberleys Stimmen aus dem Wohnzimmer hören. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber immerhin den Tonfall - und was ich belauschte, das war ganz bestimmt kein Liebesgeflüster.
Ebenso lautlos, wie ich die Tür geöffnet hatte, schloss ich sie hinter mir wieder, wandte mich um und schlich zum Wohnzimmer. Ich widerstand der Versuchung, einen Blick hinein zu werfen. Stattdessen presste ich mich dicht neben der Tür gegen die Wand und lauschte mit geschlossenen Augen.
»... frage Sie noch einmal, Mister Pratt«, sagte Kimberley gerade. »Was wollen Sie hier? Es ist Mitternacht! John ist nicht hier, und er kommt auch heute nicht mehr!«
»Sie sind durcheinander, Kimberley«, antwortete Pratt. »Aber das ist nur zu verständlich. Ich werde Ihnen alles erklären.«
»Für Sie immer noch Mrs. Sayers, Mister Pratt. Und Ihre Erklärungen interessieren mich nicht. Gehen Sie!«
Pratt lachte. Jedenfalls glaubte ich, dass es ein Lachen war. Ganz sicher war ich nicht.
»Ich muss Ihnen ein paar Dinge erklären, Kimberley. Sind Sie bereit dafür?«
Ich konnte hören, dass er mit irgendetwas hantierte; ein metallischer, raschelnder Laut, als hätte er irgendetwas ausgepackt, das in eine Aluminiumfolie eingehüllt war. Kimberley sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Was ist das? Es ... es soll aufhören! Dieses Geräusch! Machen Sie, dass es aufhört!«
Ich lauschte angestrengt, konnte aber absolut nichts hören. Die Verlockung, mich aus meinem Versteck zu lösen und ins Wohnzimmer zu stürmen, wurde immer stärker, aber noch widerstand ich ihr. Vielleicht musste ich nur eine oder zwei weitere Minuten abwarten, um Pratt ein für alle Mal loszuwerden.
»Es tut mir leid, Kimberley«, sagte er, »aber das kann ich nicht. Glauben Sie mir, auch ich hätte es vorgezogen, dieses Gespräch mit John zu führen, statt mit Ihnen. Aber unglücklicherweise war John nicht hier, als meine ... Kameraden Sie besuchten.«
»Dieses Geräusch!« wimmerte Kim. »Schalten Sie es ab! Schalten Sie es ab, Pratt!«
Ich hörte immer noch nichts, aber es fiel mir immer schwerer, reglos dazustehen und zu lauschen. Der gequälte Ton in Kimberleys Stimme war echt. Sie litt Höllenqualen. Noch eine Minute, dachte ich, keine Sekunde länger.
»Sie werden gleich alles verstehen, Kimberley«, sagte Pratt. »Es ist bedauerlich. Eigentlich mag ich Sie nämlich. Sie sind ein nettes Mädchen, und Sie haben mit dieser ganzen Geschichte nun wirklich nichts zu tun. Aber manchmal entwickeln sich die Dinge nun einmal nicht ganz so, wie man will. Das Problem ist John. Wir können Ihrem Mann nicht mehr länger trauen, Kim. Er entwickelt sich allmählich zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung. Für uns alle, Kim. Auch für Sie.«
»Dieses Geräusch!« wimmerte Kim. Der Schmerz in ihrer Stimme ließ auch mich innerlich aufstöhnen. »Schalten Sie es ab! Ich ertrage es nicht mehr!«