Höher als die Gedächtnissäule waren die baggernden und bauenden Eisenkräne in den Hafenanlagen. Dahinter, das Imposanteste von allem, thronte auf dem ursprünglichen Ludgate Hill das Skelett der neuen St. Paul’s Cathedral. Es führte keine Brücke über die Themse, aber es gab Pläne, eine zu bauen; etliche Fähren besorgten den Transfer.
Lily zupfte an seinem Ärmel. »Daddy«, sagte sie feierlich. »Ein Monster.«
»Wie meinst du?«
»Ein Monster! Guck!«
Seine Tochter hatte die Augen aufgerissen und zeigte links vom Bug weg, flussaufwärts.
Als Guilford ihr den Namen des Monsters erklärte, schlug sein Herz schneller: Schlammschlange sagten die Siedler dazu, auch Flussschlange. Caroline umklammerte den anderen Arm, als das Geplapper an Deck versiegte. Die Schlammschlange hob den Kopf über den Bug; sie tat das auf eine verblüffend graziöse Weise — immerhin hatte der Schädel die Form eines stumpfen Keils von der Größe eines Kindersargs und saß auf einem zwanzig Fuß langen Hals. Guilford wusste, die Kreatur war harmlos — friedlich, buchstäblich ein Lotosesser —, aber sie war furchterregend groß.
Unter Wasser hatte sie sich im Schlamm verankert. Die Beine der Schlammschlange waren knochenlose, knorpelige Sporne, mit denen sie sich gegen die Strömung stemmte. Die Haut war ölig weiß, stellenweise algengrün gesprenkelt. Die Kreatur schien fasziniert von der Geschäftigkeit am Ufer. Sie richtete ihre gegenständigen Augen nacheinander auf die Kräne im Hafen, blinzelte und öffnete stumm das Maul. Dann erspähte sie eine treibende Lotosinsel und schöpfte das Grün mit einer einzigen geschickten Bewegung ab und tauchte wieder in die Themse.
Caroline barg den Kopf an Guilfords Schulter. »Gott steh uns bei«, sagte sie leise. »Hier ist die Hölle.«
Lily wollte wissen, ob das stimmte. Guilford versicherte ihr, dass dem nicht so sei; hier sei lediglich London, das neue London in der neuen Welt — obwohl der Vergleich angesichts des feurigen Sonnenuntergangs, des rasselnden Hafens und des Flussmonsters und allem anderen nicht ganz von der Hand zu weisen war.
Stevedores übernahm das Entladen der Fähre. Finch, Sullivan und der Rest der Expedition stiegen beim Imperial ab, dem größten Londoner Hotel. Guilford blickte wehmütig auf die bleigefassten Fenster und die schmiedeeisernen Balkone des Gebäudes, als er mit Caroline und Lily aus dem Hafen fuhr. Sie hatten sich ein Londoner Taxi genommen, im Grunde ein Pferdekarren mit Tuchverdeck und schlechter Federung; sie fuhren zu Carolines Onkel, Jered Pierce. Ihr Gepäck würde morgen früh folgen.
Menschen lärmten durch die dämmrigen Straßen, dazwischen war ein Lampenanzünder unterwegs. Vom legendären englischen Benehmen war nicht viel geblieben, dachte Guilford, wenn denn dieser Mob von Seeleuten und lauten Frauenzimmern überhaupt typisch war für London.
Aber London war schlicht und einfach eine Grenzstadt, seine Bevölkerung eine Auslese der raueren Elemente der Königlichen Flotte. Kohle und Öl mochten knapp sein, aber die Schnapsbuden schienen ein glänzendes Geschäft zu machen.
Lily legte den Kopf auf Guilfords Schoß und schloss die Augen. Caroline war hellwach. Sie nahm Guilfords Hand und drückte sie. »Liam sagt, es wären gute Leute, aber ich hab sie noch nie gesehen.« Sie meinte ihre Tante und ihren Onkel.
»Sie gehören zur Familie, Caroline. Sie sind bestimmt nett.«
Der Pierce-Laden lag in einer hell erleuchteten Marktstraße, wirkte aber so improvisiert und klapprig wie alles in der Stadt. Carolines Onkel Jered stürmte aus der Tür und umarmte seine Nichte, schüttelte Guilford kräftig die Hand, schnappte sich Lily und begutachtete sie wie einen besonders erfreulichen Mehlsack. Dann lud er die drei ins Haus und brachte sie eine Eisentreppe hinauf in die Wohnung über dem Laden. Die Zimmer waren klein und spärlich möbliert, doch ein Holzofen machte es heimelig warm und die Umarmungen von Jereds Frau Alice taten ein Übriges. Guilford lächelte und überließ Caroline das Wort. Jetzt, wo er endlich festen Boden unter den Füßen hatte, meldete sich die Erschöpfung. Jered legte ein hohles Holzscheit nach, und Guilford stellte fest, dass in Darwinia sogar brennendes Holz nicht so roch wie es sollte: Der Rauch war süß und stechend, wie indischer Hanf oder Rosenöl.
Die Pierce-Familie war weit zerstreut gewesen, als das Wunder passierte; Caroline war in Boston bei Jereds Bruder Liam; ihre Eltern in England bei Carolines sterbendem Großvater. Jered und Alice waren in Capetown und blieben dort bis zu den Unruhen von 1916; im August fuhren sie mit dem Schiff nach London, in der Tasche ein üppiges Darlehen von Liam sowie Pläne für ein Textil- und Eisenwarengeschäft. Jered und Alice waren zähe Typen, stämmig und kräftig. Guilford mochte sie auf Anhieb.
Zuerst ging Lily zu Bett, in einer Art Gästezimmer, das kaum größer war als eine Abstellkammer. Guilford und Caroline mussten den Flur hinunter. Ihr Bett war ein Himmelbett aus Messing, himmlisch bequem. Die Pierce-Familie legte mehr Wert auf die Qualität einer Matratze als die knickerigen Ausstatter der Odense. Guilford ging davon aus, so bald nicht wieder in einem anständigen Bett zu schlafen, und wollte die Gelegenheit genießen; doch kaum hatte er die Augen geschlossen, übermannte ihn der Schlaf, und dann, viel zu schnell, war es schon wieder Morgen.
Die Finch-Expedition wartete in London auf eine zweite Ladung an Vorräten und Ausrüstungsgegenständen, dazu gehörten fünf achtzehn Fuß lange Stone-Galloway-Flachboden-Boote mit Außenbordmotor; alles sollte mit dem nächsten Schiff von New York kommen. Guilford verbrachte zwei Tage in einem düsteren Zollgebäude, um eine Bestandsliste aufzustellen, derweil Preston Finch verschiedene Fehlposten ergänzte und Schadhaftes ersetzte — einen Flaschenzug, eine Persenning, eine Blattpresse.
Danach hatte Guilford Zeit für seine Familie. Er half im Laden, sah zu, wie Lily Eier frühstückte und abends Wurst vertilgte und viel zu viele Kekse über Tag verfutterte. Er bestaunte Jereds Urkunde, die von Lord Kitchener persönlich unterzeichnet war und den Inhaber als Freiwilligen Helfer des Empire auswies. Sie hatte einen Ehrenplatz im Wohnzimmer. Jeder Engländer, der ins Mutterland zurückkehrte, bekam eine solche Urkunde, doch Jered nahm seine Pflichten ernst, und wenn er vom Wiederaufbau des Dominion redete, dann ohne ironischen Unterton.
Das alles war ganz interessant, aber es betraf nicht das Europa, um das es Guilford ging — die raue neue Welt, an die noch kein Mensch Hand angelegt hatte. Er sagte Jered, er wolle einen Tag damit verbringen, sich die Stadt anzusehen.
»Da gibt’s nicht viel zu sehen, fürchte ich. Von Candlewick nach St. Paul’s ist bei Sonne ein hübscher Spaziergang, oder die Uferstraße hinter den Kais. Weiter östlich sind die Straßen ein einziger Morast. Und halt dich von den Rodungen fern.«
»Mit Morast muss ich leben«, sagte Guilford. »Die nächsten paar Monate sind voller Morast.«
Jered runzelte besorgt die Stirn. »Ja, da könntest du Recht haben.«
Guilford marschierte an den Marktständen vorbei und ließ den klirrenden Hafen hinter sich. Die Sonne strahlte an diesem Morgen, die Luft war herrlich kühl. Ihm begegneten viele Pferdekarren, aber kaum Automobile und die städtischen Tiefbauarbeiten konnten kaum Schritt halten. Durch die jüngeren Viertel liefen offene Abwasserkanäle; ein stinkender Klärkarren ratterte die Candlewick Street hinunter, gezogen von zwei lendenlahmen Gäulen. Ein paar Stadtbewohner hatten sich weiße Taschentücher über Nase und Mund gebunden, was Guilford bereits beim Andocken der Fähre verstanden hatte: Die Stadt roch manchmal entsetzlich, eine Mischung aus menschlichen und tierischen Exkrementen, Kohlenrauch und dem Gestank der Papiermühle auf der anderen Seite der Themse.