Aber die Stadt war auch lebendig und gutmütig und Guilford wurde von anderen Fußgängern freundlich gegrüßt. Er lunchte in einem Ludgate-Pub und trat gestärkt wieder ins Freie. Hinter der neuen St. Paul’s Cathedral verlor sich die Stadt in Teerpappenhütten, Farmrodungen und unberührten Waldbeständen. Die Straße ging in einen ausgefahrenen Erdweg über. Die grünen Kuppeln der Moscheebäume spendeten Schatten und die Luft war mit einem Mal viel frischer.
Die allgemein anerkannte Erklärung des Wunders war, dass es genau das war: ein kolossaler Akt göttlichen Eingreifens. Das glaubte auch Preston Finch, und Finch war kein Idiot. Und auf den ersten Blick war diese Hypothese unanfechtbar. Ein Ereignis hatte stattgefunden, das allen Naturgesetzen Hohn sprach; es hatte in einer einzigen Nacht einen beträchtlichen Teil der Erdoberfläche grundlegend verwandelt. Von solchen Ereignissen wusste nur die Bibel zu berichten. Wie konnte man nach der Verwandlung Europas noch an der Sintflut zweifeln, insbesondere wenn Naturwissenschaftler wie Finch in der geologischen Literatur nach Belegen für dieses biblische Ereignis fischten? Der Mensch plant und Gott tut es einfach; Gottes Beweggründe mochten im Dunkel bleiben, doch sein Werk war unverkennbar.
Guilford aber konnte nicht unter diesen sanft schwankenden, fremdartigen Pflanzen stehen und glauben, dass sie nicht ihre ureigene Geschichte hatten.
Fest stand, 1912 war Europa neu geschaffen worden; fast so sicher war, dass diese Bäume hier in einer einzigen Nacht aufgetaucht waren, acht Jahre jünger als sie es jetzt waren. Aber sie machten nicht den Eindruck, als wären sie neu erschaffen worden. Sie erzeugten Samen (Sporen genau genommen oder germinae nach der neuen Nomenklatur), was unter anderem Erbgut, Geschichte, Abstammung und vielleicht sogar Evolution bedeutete. Der Stamm eines gefällten Baumes würde weit mehr als acht Jahresringe zeigen. Die Jahresringe mochten mal größer mal kleiner sein, je nach Temperatur und Sonneneinstrahlung in dem betreffenden Jahr… einem Jahr, das es gegeben hatte, bevor diese Pflanzen auf der Erde erschienen waren.
Woher also kamen sie?
Am Rand des Weges wuchsen beinah schulterhohe Gullyblumen. In einer kelchförmigen Knospe krabbelte zwischen blauen stachelartigen Staubgefäßen eine ›Nähnadel‹. Jede Bewegung des Insekts bestäubte die laue Frühlingsluft mit winzigen Keimwölkchen. So etwas ›über‹natürlich zu nennen, dachte Guilford, war ein Widerspruch in sich.
Andererseits, welche Grenzen waren einem göttlichen Eingriff gesetzt? Keine vermutlich. Wenn der Schöpfer seiner Schöpfung den falschen Anschein von Evolution geben wollte, dann tat er es einfach; menschliche Logik war bestimmt seine geringste Sorge. So gesehen hatte Gott die Welt vielleicht erst gestern erschaffen, sie aus Sternenstaub und göttlichem Willen zusammengefügt, komplett mit unserer täuschend echten Erinnerung. Konnte man es wissen? Hatten Cäsar und Cleopatra jemals gelebt? Und was war mit den Millionen, die in jener Nacht von der Bildfläche verschwanden? Hätte das Wunder den ganzen Planeten verschlungen und nicht bloß einen Teil, dann wäre die Antwort ein klares Nein gewesen — kein Guilford Law, kein Woodrow Wilson,[16] kein Edison und kein Marconi; kein Rom, kein Griechenland, kein Jerusalem; kein Neandertaler. Und schließlich auch kein Adam und auch keine Eva.
Und wenn dem so ist, überlegte Guilford, dann leben wir in einem Irrenhaus. Niemand könnte je etwas wirklich verstehen… außer Gott, wenn er wollte.
In dem Fall sollten wir einfach aufgeben. Dann war Wissen bestenfalls ein Provisorium und Wissenschaft ein sinnloses Konzept. Dagegen aber sträubte er sich.
Der Geruch von Rauch lenkte ihn von den Gullyblumen und seinem philosophischen Exkurs ab. Er folgte dem sanft ansteigenden Weg bis zu einem offenen Feld, wo man Moschee- und Glockenbäume gefällt, mit trockenem Unterholz beschichtet und in Brand gesetzt hatte. Rußgeschwärzte Arbeiter standen am Rand des Weges und bewachten das Feuer.
Ein stämmiger Kerl in Latzhose und Seemannspullover — der Boss vermutlich — winkte ihn ungeduldig heran. »Fürchte, der Brand ist gelegt. Besser sie bleiben hinter den Treibern oder kehren um. Ein paar könnten durchkommen.«
Guilford sagte: »Ein paar was?«
Das löste bei den Männern Gelächter aus, von denen etwa ein halbes Dutzend dicke Holzknüppel trugen, die an einem Ende stumpf waren.
Der Boss sagte: »Sind Sie Amerikaner?«
Guilford bestätigte.
»Neu hier?«
»Ziemlich neu. Worauf soll ich aufpassen?«
»Stumpfläufer, Herrgott noch mal. Sehen Sie sich doch an, Sie tragen ja nicht mal Kniestiefel! Machen Sie einen Bogen um die Rodungen, wenn Sie nicht das Richtige am Leib haben. Wenn gefällt und geschichtet wird, kann wenig passieren, aber das Feuer lockt sie raus. Bleiben Sie hinter den Treibern, bis die Hitze vorbei ist, dann passiert Ihnen nichts.«
Guilford stellte sich, wo der Boss ihn hinstellte. Die Arbeiter bildeten eine Schützenlinie zwischen dem Weg und dem gerodeten Flecken. Die Sonne wärmte, jedes Mal wenn der Wind drehte, bekam Guilford den dicken, beizenden Qualm ins Gesicht. Er fragte sich schon, ob das Warten den ganzen Nachmittag dauern würde, als ein Arbeiter »Aufpassen!« schrie und in die Lichtung starrte und bei gespreizten Knien den Knüppel wog.
»Die Viecher leben im Boden«, sagte der Boss. »Das Feuer kocht sie raus. Man darf ihnen nicht in die Quere kommen. Und Sie schon gar nicht.«
Am verkohlten Boden der Lichtung rührte sich etwas. Stumpfläufer waren, wenn Guilford sich recht erinnerte, staatenbildende, unterirdisch lebende Insekten, etwa so groß wie Maikäfer; normalerweise lebten sie im Wurzelwerk älterer Moscheebäume. Unproblematisch für den, der vorbeikam, aber aggressiv, wenn sie gereizt wurden. Und ungemein giftig.
Von der Rodung musste ein Dutzend üppiger Nester betroffen sein.
Wie schwarzes Öl sprudelten die schimmernden Insekten aus der Erde und füllten die schwelenden Lücken zwischen den Feuern. Die Lichtung spuckte mehrere, deutlich getrennte Schwärme aus, die kollidierten, kehrtmachten und Strudel bildeten.
Die Treiber droschen den Boden ein. Sie schlugen zu wie auf Kommando, wirbelten Staub und Asche auf und schrien wie die Verrückten. Der Boss packte Guilfords Arm. »Keine Bewegung!«, brüllte er. »Hier sind Sie in Sicherheit. Wenn die könnten, wie sie wollten, aber die haben nur eins im Kopf: Weg mit den Eiern.«
Die Treiber in ihren Schaftstiefeln droschen unverdrossen auf den Boden ein, bis die Stumpfläufer aufmerkten. Die Schwärme quirlten um die Reisigfeuer wie lebende Zyklone, drängten sich zusammen, bis sie eine geschlossene, lückenlose Masse bildeten, dann wandten sie sich vom Tumult der Treiber ab und flohen wie ein auslaufender Ölpfuhl ins Schattenreich des Waldes.
»Ein Schwarm allein hat keine Chance. Wäre leichte Beute für Schlangen, Springmäuse und Billyfalken, alles was mit ihrem Gift klarkommt. Wir stochern noch ein, zwei Tage in den Feuern. Kommen Sie in einer Woche, Sie werden staunen.«
Die Arbeit ging weiter, bis auch der letzte Stumpfläufer Reißaus nahm. Die Treiber stützten sich keuchend auf ihre Knüppel, erschöpft, aber erleichtert. Die qualmige Luft trug die Duftmarke der Insekten, eine Mischung aus Moder und Salmiak. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und stellte fest, dass er voller Ruß war.
»Wenn Sie noch mal die Stadt verlassen, dann nicht in dieser Montur. Wir sind nicht in New York City.«
Guilford lächelte dünn. »Ich begreife allmählich.«
»Bleiben Sie länger?«
»Ein paar Monate. Hier und auf dem Festland.«
»Das Festland! Eine einzige Wildnis und ein paar verrückte Amerikaner, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage.«