Preston Finch stand am Pier, die riesigen Hände nach hinten verschränkt, das Gesicht vom Tropenhelm überschattet.
Der Mann war ein Widerspruch in sich, überlegte Guilford: ein robuster Mann, kräftig trotz seines Alters, ein vom Wetter gegerbter Flussfahrer, dessen Urteilsvermögen und Mut außer Zweifel standen. Aber seine Noachitische Geologie, so sehr sie in den nervösen Zeiten nach dem Wunder zur Mode geworden war, blieb in Guilfords Augen ein Konglomerat aus Halbwahrheiten, zweifelhaften Schlussfolgerungen und nostalgischem Protestantismus. Nicht überzeugend, egal wie sehr Finch die Sache mit Theorien über Sedimentation und Zitaten von Berkeley[20] garnierte. Außerdem lehnte Finch jede Diskussion dieser Ideen ab und duldete keine Kritik von Kollegen, und schon gar nicht von einem Photographen. Wie war jemandem zumute, der sich ein solch barockes Bauwerk von Theorie in den Schädel gepfercht hatte? So eine spleenige Kathedrale, so gut verstrebt, so gut abgesichert?
John Sullivan, die zweite graue Eminenz der Expedition, lehnte an einem Piergebäude, die Arme vor der Brust verschränkt, ein mattes Lächeln unter dem breiten Strohhut. Zwei alternde Männer, Finch und Sullivan, aber Sullivan lächelte — das war der Unterschied.
Die letzte Kiste verschwand im Laderaum der Argus. Finch unterzeichnete eine Liste für den schwitzenden Lademeister. Dieser Akt hatte etwas Endgültiges. Morgen früh sollte die Argus ablegen.
Sullivan tippte an Guilfords Schulter. »Haben Sie ein paar Minuten Zeit, Mr. Law? Es gibt etwas, das Sie vielleicht interessiert.«
Museum of Monstrosities verkündete das Schild über der Tür.
Das Gebäude war nicht viel mehr als eine Baracke, aber es war alt, so alt wie Gebäude in diesem London sein konnten, wahrscheinlich gehörte es zu den ersten dauerhaften Bauten, die man am sumpfigen Ufer der Themse errichtet hatte. Auf Guilford machte es den Eindruck, als sei es immer wieder aufgegeben und neu benutzt worden.
»Hier?«, fragte Guilford. Vom Pier gleich hinter den Spelunken aus Ziegelstein war es nur ein kurzer Weg in diese hoffnungslose Gegend mit ihrer abgestandenen Luft.
»Zwei Pence Eintritt«, sagte Sullivan. Seine schleppende Sprechweise war unverbesserliches Arkansas, doch aus seinem Mund hörte es sich wie Oxford an. Zumindest wie das, was Guilford dafür hielt. »Der Besitzer ist ein Säufer. Aber er hat da ein interessantes Stück.«
Der ›Besitzer‹, ein mürrischer Mann, der nach Gin roch, öffnete auf Sullivans Klopfen, schloss die schmutzige Hand um Sullivans Geld und verschwand wortlos hinter einem Vorhang aus Segeltuch und ließ die Besucher in dem engen Raum zurück. Guilford und Sullivan konnten sich ungestört den präparierten Trophäen widmen, die ringsum in den primitiven Regalen standen. Die kleineren Exponate waren echt, es handelte sich um erkennbare darwinische Tiere, schlampig ausgestopft und montiert: ein Knopfnasenvogel, ein Sammelsurium von sechsbeinigen Aasfressern, eine Leopardenschlange mit aufgesperrtem Rachen. Sullivan lüftete ein Rollo, doch das zusätzliche Licht war eher störend, fand Guilford. Glasaugen glitzerten und schielten in die komischsten Richtungen.
»Das da«, sagte Sullivan.
Er meinte das aufrechte Skelett, das in einer Ecke vor sich hin schmachtete. Guilford trat skeptisch näher. Auf den ersten Blick sah es wie das Skelett eines Bären aus — ein plumper Zweifüßer, der Brustkorb war an einer ventralen[21] Wirbelsäule befestigt, der furchterregende Schädel war lang und aus mehreren Stücken zusammengesetzt, mit Zähnen, die wie Faustkeile aussahen. Fürchterlich. »Aber echt ist das Skelett nicht«, sagte Guilford.
»Wie kommen Sie darauf, Mr. Law?«
Hatte Sullivan keine Augen im Kopf? »Ich sehe eine Menge Fäden und Verpackungsdraht. Manche Knochen sind frischer als andere. Das da sieht aus wie der Oberschenkel einer Kuh — die Gelenke passen nicht.«
»Sehr gut. Das Auge eines Photographen.«
»Dazu muss man nicht Photograph sein.«
»Sie haben natürlich Recht. Die Anatomie ist ein Witz. Aber was mich interessiert, ist der Brustkorb, er ist korrekt zusammengesetzt, und vor allem der Schädel.«
Guilford sah wieder hin. Die Rippen und die ventrale Wirbelsäule waren unverkennbar darwinisch; es war das übliche von-hinten-nach-vorne Schema, Wirbelsäule U-förmig mit einer tiefen Chordalkerbe. Der Schädel selbst war lang, ein bisschen wie bei Rindern, der Überbau hoch und geräumig: ein kluger Fleischfresser. »Halten sie das für authentisch?«
»Das sind echte Knochen, das ist kein Pappmaché, und sie gehören keinem Säugetier. Der Hausherr hat sie angeblich einem Siedler abgekauft, der sie weiter oben an der Lea[22] in einem Sumpfloch gefunden hat — auf der Suche nach Brennmaterial, das billiger als Kohle ist.«
»Dann sind sie relativ jung.«
»Relativ, ein lebendiges Exemplar wurde allerdings noch nicht gesichtet — auch nichts entfernt Ähnliches. Große Raubtiere sind selten auf dem Kontinent. Donnovan berichtet von einem leopardengroßen Fleischfresser im Zentralmassiv, Größeres scheint nicht vorzukommen. Was stellt dieser Bursche also dar, Mr. Law? Das ist die eigentliche Frage. Ein großer, vor kurzem ausgestorbener Jäger?«
»Hoffentlich. Er sieht gewaltig aus.«
»Gewaltig und, wenn es nach dem Schädel geht, intelligent. Soweit man bei Tieren von Intelligenz sprechen kann. Sollten von seiner Art noch welche leben, wären wir auf die Pistolen angewiesen, auf die Finch so großen Wert legt. Und wenn nicht…«
»Wenn nicht?«
»Na ja, was sagt uns eine ausgestorbene Art, wenn der Kontinent erst acht Jahre alt ist?«
Guilford blieb vorsichtig. »Sie gehen also davon aus, dass der Kontinent eine Geschichte hat.«
»Ich gehe nicht davon aus, ich komme zu dem Ergebnis. Oh, die Streitfrage ist nicht neu — ich wollte einfach nur wissen, wo Sie stehen.«
»Das Problem ist, wir haben zwei Vergangenheiten. Einen Kontinent, zwei Vergangenheiten. Wie soll man das in Einklang bringen?«
Sullivan lächelte. »Gute Frage. Müssen Sie jetzt raten, Mr. Law? Welche Vergangenheit ist die richtige? Elisabeth die Erste oder unser knochiger Freund?«
»Natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber…«
»Nicht ausweichen. Sie oder er?«
»Beide«, sagte Guilford kategorisch. »Irgendwie… beide.«
»Ist das nicht unmöglich?«
»Anscheinend nicht.«
Aus Sullivans Lächeln wurde ein Grinsen. »Glückwunsch.«
Also war Guilford getestet worden, obwohl die Motive des Älteren im Dunkel blieben. Das ging in Ordnung: Guilford mochte den Botaniker, es gefiel ihm, dass der ihn wie seinesgleichen behandelte. Und noch mehr gefiel ihm der Augenblick, als er aus der Baracke des Präparators ins Freie trat. Nicht dass Londons Hafenviertel sehr viel besser gerochen hätte.
In dieser Nacht schlief er zum letzten Mal bei Caroline.
Dasletzte Mal bis Herbst, dachte Guilford, aber dieser Gedanke spendete wenig Trost. Caroline blieb abweisend diese Nacht.
Sie war die einzige Frau, mit der er jemals geschlafen hatte. Sie waren sich in den Büros von Atticus und Pierce begegnet, als er dabei war, die Platten für Rocky Mountain Fossil Shales zu retuschieren. Guilford hatte sich spontan in das reservierte und stirnkrause Pierce-Mädchen verliebt. Ihr Onkel hatte sie kurz einander vorgestellt und Guilford war in den folgenden Wochen darauf erpicht gewesen, sie abzupassen: Jeden Mittwoch, verriet ihm eine Sekretärin, würde Miss Caroline gegen zwölf Uhr mit ihrem Onkel zum Lunch gehen. Guilford hatte sie nach einem solchen Lunch abgefangen und ihr angeboten, sie bis zur Straßenbahn zu bringen. Sie hatte eingewilligt, unter ihrer Haarkrone aber wie eine argwöhnische Prinzessin dreingeschaut.
20
George Berkeley (1685–1753), Theologe, Philosoph, anglikanischer Bischof von Cloyne (Irland).