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Für die Gewehre trug Watson die Verantwortung. Gleich nachdem das Schiff am primitiven Pier festgemacht hatte, befahl er seinen Leuten — einer Handvoll Sikhs und ein paar mürrischen Kanadiern — die Paletten zu sichern und hoch zu hieven; er selbst ging inzwischen an Land, um die Formalitäten bei der Hafenbehörde zu erledigen. Es war stickig heiß und die plumpe, unfertige Holzstadt widersprach allem, was man sich unter London vorstellte. Und doch, erst dieser Anblick führte einem die Verwandlung Europas vor Augen, ein Ereignis, das für Watson bislang in weiter Ferne gelegen hatte, so abwegig und von Grund auf unglaubwürdig wie ein Märchen, ungeachtet der Tatsache, dass es so viele Menschen dahingerafft hatte.

Jedenfalls war das nicht das Land, das er vor zehn Jahren verlassen hatte. Er hatte die Public School ohne Auszeichnung absolviert und die Offiziersschule in Woolwich besucht: hatte eine Kaserne gegen die andere getauscht, lateinische Deklinationen gegen Artillerie-Manöver. In seiner Naivität hatte er G. A. Henry[26] erwartet, ein achtbares Heldentum, Ndebele-Rebellen,[27] die vor seinem Bajonett flohen. Stattdessen fand er sich in einer trostlosen Kaserne in Kairo wieder, um einen Mob von gelangweilten Infanteristen zu beaufsichtigen — bis zu jenem Abend, da schillernde Lichter den Himmel erhellten und die bebende Erde nicht nur das Britische Protektorat in Ägypten in Schutt und Asche legte. Ein ziemlich zielloses Leben, doch nicht ohne die Tröstungen von Freundschaft und Alkohol oder, feiner gesagt, von Gott und Vaterland — bis das Jahr 1912 klarmachte, dass Gott eine Chiffre war, und Er, wenn er denn überhaupt existierte, die Engländer zweifellos verachtet haben musste.

Britanniens Militärmacht hatte sich darauf konzentriert, die Besitzungen in Indien und Südafrika zu stützen. Südrhodesien war gefallen, Salisbury brannte wie ein Herbstfeuer; Ägypten und Sudan fielen an die Moslemrebellen. Watson war aus den feindlichen Trümmern von Kairo befreit und auf einem schrecklich überfüllten Truppentransporter nach Kanada verschifft worden. Er verbrachte Monate in einem Auffanglager in den unbewohnten Wäldern von British Columbia und wurde schließlich in eine Präriestadt verlegt, wo Kitcheners Exilregierung eine Fabrik für Handfeuerwaffen unterhielt.

Vor 1912 war er kein außergewöhnlicher Offizier gewesen. Hatte er sich geändert, oder hatte sich das Militär geändert? Er tat sich als eine Art Vertrauensmann des Offizierskorps hervor; lebte wie ein Mönch, überstand mit erstaunlichem Gleichmut bitterkalte Winter und kraftzehrende, trockene Sommer. Der Gedanke, dass nicht viel gefehlt hatte und er wäre in Kairo von Mahdisten enthauptet worden, erlegte ihm eine gewisse Bescheidenheit auf. Schließlich, als der Wiederaufbau in Schwung kam, wurde er nach Ottawa beordert, wo man dringend Militäringenieure suchte.

Offiziell sprach man von ›Wiederaufbau‹, weniger offiziell von ›Kitcheners Spleen‹: die Errichtung eines neuen London an den Ufern eines Flusses, der nur annähernd die Themse war. Jerusalem mitten in einem grünen und unfreundlichen Land. Nur eine Geste, meinten Kritiker, doch selbst diese Geste war nur möglich, weil es die geschundene, aber immer noch mächtige Royal Navy gab. Die Vereinigten Staaten propagierten die arrogante Forderung, Europa müsse ›frei und offen für eine Wiederbesiedlung ohne Grenzen‹ sein — die sogenannte Wilson-Doktrin, die de facto eine amerikanische Hegemonie, eine amerikanische Neue Welt bedeutete. Die deutsche und die französische Rumpfregierung, gelähmt durch Streitereien um die gegenseitige Anerkennung und den Verlust ihrer europäischen Ressourcen, gaben nach dem ersten Scharmützel auf. Kitchener war es inzwischen gelungen, eine Sonderregelung für die Britischen Inseln zu verhandeln, was noch mehr Protest auslöste. Doch die verschmähten Überbleibsel des Old Europe konnten ohne industrielles Standbein nichts gegen die geballte Macht der Royal Navy und der White Fleet ausrichten.

Also eine Art Burgfriede. Aber kein stabiler, dachte Watson. Dieser zivile Frachter zum Beispiel und seine militärische Ladung. Watson hatte den geheimen Auftrag, eine Waffenladung von Halifax[28] nach London zu begleiten. Vermutlich sollte das Zeughaus aufgestockt werden, aber das war nicht die erste Ladung dieser Art, die Kitchener auf den Weg gebracht hatte, und bestimmt nicht die letzte. Watson konnte nur vermuten, wozu die Neue Welt so viele Gewehre und Maxim-MGs (Sir Hiram S. Maxim (geb. 1840), in Amerika geborener, britischer Erfinder.) und Mörser benötigte… dann aber war der Friede nicht so friedlich, wie er sich ausnahm.

Die Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen. Das Meer war ruhig gewesen, die Tage so hell, als hätte man sie in blaues Metall gehämmert. Watson hatte die viele freie Zeit genutzt, um sein Leben Revue passieren zu lassen. Die Tragödie von 1912 hatte er relativ ungeschoren überstanden. Seine Eltern hatten die Verwandlung nicht mehr erlebt und Geschwister, Frau oder Kinder, die er hätte verlieren können, gab es nicht. Er hatte nur ein Leben zu verlieren. Einen Koffer voller Erinnerungen, die langsam aber sicher verblassten. Die Vergangenheit war wie abgeschnitten und die Jahre ohne Kompass und ohne Ballast waren entsetzlich rasch verflogen. Vielleicht war es ja richtig, dass er sich wieder nach England aufgemacht hatte: diesem neuen England, diesem aufregenden Pseudo-England. Dieser stickigen, schmucklosen Londoner Hafenbehörde in ihrem grau verstaubten Backsteinhaus. Er wies sich aus, wurde in ein Hinterzimmer geführt und einem korpulenten, südafrikanischen Kaufmann vorgestellt, der sich bereit erklärt hatte, das Waffenmaterial einzulagern, bis das Zeughaus zur Aufnahme bereit war. Pierce hieß der Mann. Jered Pierce.

Watson streckte die Hand aus. »Erfreut, Sie kennen zu lernen, Mr. Pierce.«

Der Südafrikaner umschloss Watsons Hand mit seiner riesigen Pranke. »Ganz meinerseits, Sir.«

* * *

London machte Caroline Angst, doch der enge, verwinkelte Laden ihres Onkels ging ihr auf die Nerven. Von Zeit zu Zeit hatte sie Tante Alice die Hausarbeit abgenommen, doch sie musste sich auch um Lily kümmern. Caroline wollte nicht, dass Lily alleine draußen spielte, wo sich der Kehricht sammelte und die Gosse unbeschreiblich war, und drinnen war Lily eine Landplage, jagte die Katze oder hielt Teekränzchen mit den Porzellanfiguren. Jedes Mal, wenn Alice sich anbot, auf Lily aufzupassen, während Caroline das Lunchpaket für Jered zum Hafen brachte, war Caroline erleichtert. Sie fühlte sich befreit und genoss das Alleinsein.

Sie hatte sich vorgenommen, heute Nachmittag nicht an Guilford zu denken, und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Eine Schar schmutziger englischer Kinder rannte vorbei — nicht auszudenken, das Jüngste könnte hier in diesem Albtraum geboren sein! Der Junge zerrte den Buschhüpfer an einer Schnur hinter sich her; die sechs blassgrünen Beine des Tiers überschlugen sich fast und die dunklen Augen rollten vor Angst. Warum nicht? Gut, wenn in dieser halb menschlichen Welt nicht bloß die Menschen Angst hatten. Solche Gedanken hätte sie nie mit Guilford teilen können.

Aber Guilford war fort. Siehst du, dachte Caroline, du kannst nicht anders. Nur Unheil konnte ihn vorzeitig zurückbringen, aber selbst das stand in den Sternen.

Vermutlich war er schon im Hinterland von Darwinia, das noch unheimlicher war als dieser grausige Schatten von London.

Sie hatte es aufgegeben, sich nach dem Warum zu fragen. Er hatte es ihr ein Dutzend mal geduldig auseinandergelegt und seine Antworten erschienen auf den ersten Blick auch plausibel. Doch Caroline ahnte andere Beweggründe, unterschwellige, so mächtig wie die Gezeiten. Die Wildnis hatte gerufen und Guilford folgte ihrem Ruf, egal wie wild die Tiere, wie tückisch die Flüsse und wie tödlich das Fieber und wie gefährlich die Banditen waren. Wie ein unglücklicher kleiner Junge war er von zu Hause ausgerissen.

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26

G. A. Henty (1832–1902), Abenteuerschriftsteller, ›The Prince of Story-Tellers‹ und ›The Boy’s Own Historian‹ genannt.

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27

Ndebele, Bantustamm in Zentral-Transvaal.

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28

Kanadische Hafenstadt.