»Ich weiß.«
»Kann ich mit ihr reden?« Er setzte sein Glas auf den Schreibtisch. »Ist das tatsächlich möglich, Mr. Vale?«
»Vielleicht«, sagte Vale. »Wir werden sehen.«
Kapitel Acht
Die Navy hatte in Jeffersonville ein Kanonenboot mit geringem Tiefgang liegen, das die Finch-Expedition so weit ins Landesinnere bringen sollte, bis der Rhein nicht mehr befahrbar war; doch die Abfahrt musste verschoben werden, als der Lotse und ein Großteil der Mannschaft an Kontinentalfieber erkrankten. Guilford wusste nur ganz wenig über die Krankheit. »Ein Sumpffieber«, erklärte Sullivan. »Strapaziös, aber nur selten tödlich. Die Verzögerung wird sich in Grenzen halten.«
Ein paar schwüle Tage später war das Dampfboot zur Abfahrt bereit. Guilford baute auf dem schwankenden, hölzernen Pier seine Kameras auf, die sperrige Trockenplattenkamera und die Rollfilmkamera. Die Photographie hatte seit dem Wunder keine großen Fortschritte gemacht; die langen Arbeitskämpfe von 1915 hatten Eastman Kodak für den größten Teil des Jahres lahmgelegt und die Hawk-Eye-Werke in Rochester waren bis auf den Boden abgebrannt. Dafür hatten beide Kameras ein modernes und elegantes Design. Guilford hatte etliche Platten von der Montana-Expedition koloriert und wollte mit der Ausbeute von Darwinia genauso verfahren, und daher machte er sich genaue Notizen:
Vierzehn Mitglieder der Expedition, Pier in Jeffersonville, Europa: v.l.n.r. stehend Preston Finch, Charles Curtis Hemphill, Avery Keck, Tom Gillvany, Kenneth Donner, Paul Robertson, Emil Swensen; v.l.n.r. kniend Tom Compton, Christopher Tuckman, Ed Betts, Wilson W. Farr, Marion (›Diggs‹) Digby, Raymond Burke, John W. Sullivan.
H’grund: Navy-Boot ›Weston‹, Rumpf graublau; J’ville-Hafen, Wasser türkis unter tiefblauem Himmel; Rhein-Marsch bei leichtem Nordwind, gold & grün & Wolkenschatten, 8 Uhr vormittags. Wir fahren ab.
Und so nahm die Reise unter einem rauen, blauen Himmel ihren Anfang (es schien immer Anfang zu sein, dachte Guilford; Anfang und schon wieder Anfang), wie Weizen tanzten die Spinnenbinsen auf der Marsch. Guilford hatte alle Hände voll zu tun, um aus dem winzigen, fensterlosen Kabuff, das man ihm zugewiesen hatte, ein Photolabor zu machen. Dann ging er an Deck, um nichts zu verpassen.
Bei Einbruch der Dunkelheit wich das Marschland einem trockeneren, sandigeren Uferstrich und die Salzwassergräser wurden von Pagodenbüschen und Orgelhalmen abgelöst, denen der Wind unmelodische Töne entlockte. Nach einem prächtigen Sonnenuntergang wurde aus dem Land eine einzige grenzenlose Finsternis. Zu groß, dachte Guilford, zu leer und zu unscheinbar, um es dem indifferenten Räderwerk Gottes zuzuschreiben.
Er schlief unruhig und wachte fiebernd auf. Er kletterte aus der Hängematte und torkelte — die Bodenplatten tanzten Walzer — und die Gerüche aus der Kombüse erstickten jeden Appetit. Gegen Mittag war er so krank, dass er den Expeditionsarzt kommen ließ. Dr. Wilson Farr diagnostizierte Kontinentalfieber.
»Werde ich sterben?«, fragte Guilford.
»Klopfen Sie ruhig mal an«, meinte Farr und schielte über den Kneifer, dessen Gläser kaum größer waren als die Banderole einer Zigarre. »Ich bezweifle, dass man Ihnen aufmacht.«
Im Laufe des Abends, während das Fieber immer noch stieg und auf Armen und Beinen ein rosiges Erythem blühte, suchte Sullivan ihn auf. Guilford hatte Mühe, die beiden Sullivans zur Deckung zu bringen, und die Unterhaltung driftete wie ein führerloses Schiff. Der Ältere versuchte ihn mit Hypothesen über die darwinische Fauna zu zerstreuen, mit der Anatomie der hiesigen Wirbellosen. Schließlich sagte Sullivan: »Ich glaube, Sie sind jetzt müde…« Und wie müde Guilford war: unsäglich müde. »Nur eins noch, Mr. Law. Wie kommt es Ihrer Meinung nach, dass sich eine rein darwinische Krankheit, eine wundersame Mikrobe, in normalen Sterblichen wie unsereinem pudelwohl fühlt und vermehrt? Sieht das nach einem Zufall aus?«
»Weiß nicht«, murmelte Guilford und drehte das Gesicht zur Wand.
Als die Krankheit ihren Höhepunkt erreichte, träumte er, er sei ein Soldat, der den Rand irgendeines stickigen, staubigen Schlachtfeldes abschritt: eine Feldwache der Toten, die auf einen verborgenen Feind wartet und sich ab und zu hinkniet, um aus einer lauen Wasserpfütze zu trinken — im Angesicht ihres Spiegelbildes, das unsäglich alt war — alt und voller schläfriger Geheimnisse.
Der Traum versank in einer langatmigen Leere, die immer wieder von Blitzen aus Brechreiz und Ekel erhellt wurde, doch am Montag war Guilford über dem Berg, das Fieber ging zurück, er nahm wieder feste Nahrung zu sich und machte sich wieder in seinem Kabuff zu schaffen, derweil die Weston landeinwärts dampfte. Farr brachte ihm eine neue Ausgabe von Finchs Diluvian and Noachian Geognosy,[30] woraufhin Guilford eine Zeit lang mit den verschiedenen Erdzeitaltern befasst war und nicht zuletzt mit der Sintflut, die ihre Spuren in kataklysmischen[31] Umbildungen des Erdmantels hinterlassen hatte, zu denen auch der Grand Canyon gehörte… Sofern, wie Finch zu bedenken gab, diese Formationen keine ›vorherigen Eingriffe waren, die ihr Urheber lediglich mit dem Anschein großen Alters ausgestattet habe‹.
Die Schöpfung, durcheinandergewirbelt von einer weltweiten Flutwelle, die Fossilien in verschiedenen Höhenlagen abgelegt oder — wie es Eden selbst ergangen sein musste — unter Schlamm und Treibsand begraben hatte. Vieles war Guilford nicht neu, obwohl Finch seine Argumente mit einer Fülle von Details untermauerte: die unzähligen Klassifikationen durch Strömung und Ablagerung; ein geologisches Instrumentarium, um ausgestorbene Arten fein säuberlich in getrennte Kategorien einzuordnen. Diese eine Ausdrucksweise aber — ›Anschein von Alter‹ — machte ihm Kopfzerbrechen. Dadurch wurden alle Fakten zu einem Provisorium. Die Welt war ein Bühnenbild, das vielleicht gestern erst entstanden war, frisch ausgestattet mit Gebirgen und Mastodonknochen und menschlichen Erinnerungen — was dem Schöpfer unterstellte, seine menschlichen Ebenbilder nach Belieben zu täuschen, und was eine verlässliche Unterscheidung zwischen dem Zahn der Zeit und einem Wunder unmöglich machte. Das kam Guilford unnötig kompliziert vor — warum aber, wenn man es recht bedachte, sollte die Welt einfach sein? Vielleicht war es nur menschlicher Größenwahn zu glauben, man könne das ganze Universum mit all seinen Sternen und Planeten in eine einzige Gleichung packen (wie man es dem europäischen Mathematiker Einstein nachsagte).
Eben darum hat Gott uns die Heilige Schrift gegeben, würde Finch sagen — um Sinn zu stiften in einer konfusen Welt. Und Guilford kam nicht umhin, Gewicht und Poesie von Finchs Werk zu bewundern, und die darin eingerollte Logik. Er verstand zu wenig von Geologie, um Position zu beziehen… obwohl er sich nicht des Eindrucks erwehren konnte, hier sei eine erhabene Kathedrale auf ein paar knirschenden Pfählen erbaut worden.
Auch Sullivans Frage ging ihm nicht aus dem Kopf. Wie konnte man einen darwinischen Bazillus fangen, wenn der neue Kontinent wirklich eine isolierte Schöpfung war? Und mehr noch: Wieso konnten Menschen gewisse darwinische Pflanzen und Tiere verdauen? Manche waren giftig — viel zu viele —, aber manche waren nicht nur nahrhaft, sondern regelrechte Leckerbissen. Wies das nicht auf eine verborgene Ähnlichkeit hin, auf einen, wenn auch entfernt, gemeinsamen Ursprung?
Na ja, zumindest auf einen gemeinsamen Schöpfer. Sullivan hatte an gemeinsame Vorfahren gedacht. Was aber auf den ersten Blick unmöglich schien. Darwinia existierte kaum länger als eine Dekade… oder existierte vielleicht schon viel länger, dann aber im Verborgenen, völlig unbemerkt von Mensch und Erde.