»Eigentlich nur ein Sterngucker. Aber ich sehe mir einen Planeten an, keinen Stern.«
»Darf man wissen, welchen?«
»Mars«, sagte der Botaniker.
»Der rote Planet«, sagte Guilford, was schon fast alles war, was er über diesen Himmelskörper wusste. Er wusste noch, dass der Mars zwei Monde hatte und Burroughs und der Engländer Wells Fabelhaftes über ihn geschrieben hatten.
»Nicht mehr so rot wie früher«, sagte Sullivan. »Der Mars ist dunkler seit dem Wunder.«
»Dunkler?«
»Der Mars hat Jahreszeiten, so wie die Erde. Im Sommer ziehen sich die Eiskappen zurück und die dunkleren Bereiche dehnen sich aus. Der Planet erscheint rötlich, weil er höchstwahrscheinlich eine Wüste aus oxidiertem Eisen ist. Aber seit einiger Zeit erscheint das Rot gedeckter. Seit einiger Zeit«, sagte er und stützte das Teleskop aufs Knie, »gibt es bläuliche Töne. Man hat die Veränderung spektrographisch gemessen; das Auge ist nicht ganz so empfindlich.«
»Und das heißt?«
Sullivan zuckte die Achseln. »Das weiß keiner.«
Guilford spähte in den vom Mond versilberten Himmel. Die Verwandlung von Europa war mysteriös genug. Nicht auszudenken, wenn noch ein weiterer Planet betroffen wäre. »Darf ich, Dr. Sullivan? Ich würde gerne mal den Mars sehen.«
Er würde dem Mysterium ins Auge blicken: So mutig war er.
Doch der Mars war nur ein tanzendes Lichtfleckchen am darwinischen Firmament, und der Wind war kalt und Dr. Sullivan nicht sehr gesprächig und nach einer Weile kehrte Guilford in sein Zelt zurück und schlief bis zum Morgen. Allerdings unruhig.
Kapitel Zwölf
Angst, nicht gegenstandslose Angst, sondern Angst ohne greifbaren Gegenstand, mündet letztlich in einer Art Narkose, in Taubheit. Jedes neue Omen macht alles noch freudloser, bis die Freudlosigkeit zu einer Landschaft wird, durch die man sich quält, mit Scheuklappen vor den Augen, nichts mehr aufnehmend. Oder so wenig wie möglich. So erging es Caroline.
Sie erzählte ihrer Tante von Lilys Schlafstörungen. Alice wandte sich ab und blickte geistesabwesend in die Tiefe des Textilladens, vorbei an den Stapeln aus gesteppten, weißen Getreidesäcken und auf ein Lochmuster aus Sonnenstrahlen, das aus dem rückwärtigen Oberlicht fiel.
Sie wischte sich die Hände an der Schürze. »Jered kommt manchmal spät nach Hause. Vielleicht hat er sie gestört, wenn er durch den Flur kommt. Ich werde mit ihm reden.«
Das Geheimnis wurde nicht gelüftet, Caroline wurde nicht eingeweiht und war insgeheim erleichtert. Lily schlief ab jetzt besser, obwohl sie ein paar nervöse Ticks bekommen hatte: zog an der Unterlippe, bis sie wund war; wickelte sich das Haar um den Finger. Sie wollte auf keinen Fall allein sein.
Colin Watson ging weiter aus und ein, ein undurchsichtiger Mann.
Caroline versuchte ihn ins Gespräch zu ziehen, erfuhr aber nur wenig über sein Leben und seine Arbeit; nur dass die Army ihn offenbar vergessen habe; dass er, abgesehen von seinem routinemäßigen Wachdienst im Zeughaus, so gut wie keine Aufgabe habe: Er schien anzudeuten, sich für eine Fehlbesetzung in Kitcheners neurotischem Theater zu halten. Auf die Frage, warum es neuerdings so viele Soldaten in London gab, wusste er keine Antwort. »Die Soldaten sind eine richtige Landplage«, sagte Caroline, doch der Lieutenant ließ sich nicht aus der Reserve locken. Er lächelte nur.
Soldaten und Kriegsschiffe. Caroline hasste es, zum Hafen zu gehen; in den letzten Wochen schien sich die ganze britische Navy hier zu versammeln, lauter ramponierte, vor Kanonen strotzende Schlachtschiffe. Die Frauen in der Marktstraße redeten von Krieg.
Krieg mit wem und wozu? Caroline konnte sich keinen Reim machen. Vielleicht hatte es mit den Partisanen zu tun, dem heimgekehrten Abschaum Europas, ihren lächerlichen Ansprüchen und Drohungen; oder mit den Amerikanern oder den Japanern oder — sie schob alles beiseite.
»Ich vermisse Daddy«, verkündete Lily. Es war Sonntag. Der Textilladen war geschlossen; Jered und Alice machten Inventur und Caroline war mit Lily zur Themse gegangen, einem blauen Fluss unter sengend blauem Himmel, um Segelschiffe anzugucken und eventuell ein Flussmonster zu sehen. Lily mochte die Schlammschlangen so sehr wie Caroline sie verabscheute. Der mächtige Hals, die kalten, schwarzen Augen.
»Daddy kommt bald«, erklärte sie ihrer Tochter, aber Lily zog nur eine krause Stirn, sie war immun gegen Trost. Redlichkeit ist eine Tugend, dachte Caroline, aber nichts ist sicher. Nichts. Wir tun so, den Kindern zuliebe.
Wie perfekt Lily war: Sie saß mit gespreizten Beinen auf der klobigen Holzbank, die Puppe im Schoß. ›Lady‹ hieß die Puppe. »Lady, Lady«, sang Lily vor sich hin, ein Lied aus zwei Noten. Unter dem fleischfarbenen Anstrich der Puppe brach an Wangen und Stirn das Knochenporzellan durch. »Tanz, Lady, tanz«, sang Lily.
Genau in diesem Augenblick, diesem trügerischen Frieden, der so kurz war wie das Läuten einer Glocke, sah Caroline, wie Jered hastig eine holzbefestigte Böschung herunterkam. Ihr Herz tat einen Sprung. Irgendetwas stimmte nicht. Sie sah es ihm an, seinen Augen, seinem Gang. Unwillkürlich packte sie Lily bei den Schultern. »Das tut weh!«, sagte Lily.
Jered stand atemlos vor ihr. »Caroline, ich wollte mit dir reden«, sagte er, »reden, bevor du die Times siehst.«
Er war geduldig und einfühlsam, doch als er fertig war, meinte sie, es in der brutalen Manier einer Schlagzeile zu lesen:
Partisans Attack U.S. Steamer
›Weston‹ Returns Damaged to Jeffersonville,
und dann das Schrecklichste:
Fate of Finch Expedition Unknown.
Das waren aber nur die nackten Tatsachen. Viel schlimmer war, dass Guilford so weit weg war, dass sie überhaupt nichts für ihn tun konnte, vielleicht war er verletzt, vielleicht tot. Guilford tot in der Wildnis und Caroline und Lily allein.
Sie stellte ihrem Onkel die furchtbare Frage: »Ist er tot?«, flüsterte sie, während die Erde unter ihren Füßen schwankte und Lily zur Bank lief, wo Lady zurückgeblieben war, die Augen halb zu und das Kleidchen bis über den Kopf gerutscht.
»Caroline, das weiß niemand. Aber die Schiffe wurden erst angegriffen, nachdem man die Expedition bei Rheinfelden abgesetzt hatte. Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass Guilford etwas zugestoßen ist.«
Ab jetzt werden sie mich alle belügen, dachte Caroline. Machen mich zur Witwe, und er soll wohlauf sein. Sie hob das Gesicht gen Himmel, und das Sonnenlicht fiel blutrot durch ihre Lider.
Kapitel Dreizehn
Die Seance sollte bei Eugene Randall stattfinden, also fuhren sie zu seinem Apartment in Virginia. Es war die traurige Bleibe eines Witwers, die Wand ein einziger Altar für seine verstorbene Gattin Louisa Ellen. Man hatte das Gefühl, ein archäologisches Museum zu betreten, Jahrzehnte eines Lebens reduziert auf Gefäßscherben und Tontäfelchen. Randall ließ die Beleuchtung gedämpft und steuerte zielstrebig auf die Hausbar zu.
»Ich möchte nicht betrunken sein«, erklärte er. »Ich möchte aber auch nicht nüchtern sein.«
»Ich könnte auch einen Schluck vertragen«, sagte Elias Vale.
Es war unvermeidlich, dass Vale sich an seine Gottheit verlor.
Während Vale meinte, die Gottheit ›herbeizurufen‹, war er es, der gerufen wurde, es war Vale, der gebraucht wurde. Er hatte sich nie von sich aus gemeldet. Er hatte nie eine Wahl gehabt. Wenn er sich widersetzt hätte… nicht auszudenken.