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Davies war die ganze Nacht über bei seinem Ersten Offizier auf der Brücke geblieben. Das Verstummen der Maschinen trieb die Passagiere erneut an die Reling. Sie würden fragen ohne Ende. Doch es gab keine Antworten. Davies hatte nichts zu bieten, keine Erklärung, keine Vermutung, keinen Trost, nicht einmal eine beschwichtigende Lüge. Aus Nordosten war ein feuchter Wind aufgefrischt. Kälte würde die Neugierigen bald wieder unter Deck treiben. Vielleicht fand Davies beim Dinner ein paar beschwichtigende Worte. Aber welche?

 »Und so grün«, sagte er, unfähig, diese Gedanken im Keim zu ersticken oder zu verdrängen. »Viel zu grün für diese Jahreszeit. Was für Pflanzen schießen im März aus dem Boden und verschlingen eine irische Stadt?«

 »Das ist unnatürlich«, stammelte Buckley.

Die beiden Männer sahen einander an. Die Schlussfolgerung des Ersten Maats war so offensichtlich und aufrichtig, dass Davies ein Lachen unterdrückte. Er zwang sich zu einem Lächeln, das den anderen beruhigen sollte. »Morgen schicken wir einen Landungstrupp, um die Uferlinie zu erkunden, mal sehen. Bis dahin sollten wir keine Hypothesen aufstellen… damit sind wir überfordert.«

Buckley versuchte, das Lächeln zu erwidern. »Es werden noch weitere Schiffe kommen…«

 »Und dann wissen wir, dass wir nicht übergeschnappt sind?«

 »Nun ja, Sir. So kann man es auch sehen.«

 »Bis dahin wollen wir die Augen offen halten. Sagen Sie dem Funker, er soll sich jedes Wort zweimal überlegen. Die Welt wird es noch früh genug erfahren.«

Sie starrten ein Weilchen in das kalte Grau des Morgens. Ein Steward brachte zwei Becher mit dampfendem Kaffee.

 »Sir«, wagte Buckley sich vor. »Die Kohle, die wir an Bord haben, reicht niemals bis New York.«

 »Dann bis zum nächstbesten Hafen…«

 »Falls es hier noch welche gibt.«

Davies hob die Augenbrauen. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. Vielleicht gab es Gedanken, die einfach mehr Platz brauchten als ein menschliches Hirn zu bieten hatte.

Er straffte die Schultern. »Wir sind ein White Star Schiff, Mr. Buckley. Selbst wenn Amerika Kohlenschiffe schicken müsste, man würde uns nie im Stich lassen.«

 »Jawohl, Sir.« Buckley, ein junger Mann, der einst den Fehler begangen hatte, Theologie zu studieren, bedachte den Kapitän mit einem traurigen Blick. »Sir… ob das hier ein Wunder ist?«

 »Eher eine Tragödie, würde ich sagen. Vor allem für die Iren.«

* * *

Rafe Buckley glaubte an Wunder. Er war Sohn eines Methodistenpfarrers und mit Moses und dem brennenden Dornbusch aufgewachsen, mit Lazarus, dem vom Tode erweckten, und der Vermehrung von Brot und Fisch. Trotzdem, er hatte nie damit gerechnet, mit eigenen Augen ein Wunder zu erleben. Wunder und Gespenstergeschichten bereiteten ihm Unbehagen. Er fand es besser, wenn seine Wunder zwischen den Deckeln der King James Bibel blieben, von der ein Exemplar (sträflich vernachlässigt) in seiner Kabine lag.

Mitten in einem Wunder zu sein, das ihn von Horizont zu Horizont umgab, das war ein Gefühl, als habe man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er konnte nur noch häppchenweise schlafen. Am nächsten Morgen zeigte ihm der Rasierspiegel ein bleiches Gesicht mit geröteten Augen und die Hand mit dem Rasiermesser zitterte. Er musste sich mit einer Mischung aus schwarzem Kaffee und Whiskey aus dem Flachmann beruhigen, bevor er auf Befehl des Kapitäns eine Barkasse von den Davits ließ, um mit einer Gruppe nervöser Seeleute Kurs auf den Kieselstrand des einstigen Great Island zu nehmen. Ein Wind frischte auf, das Wasser war kabbelig und von Norden zogen zerklüftete Regenwolken auf. Frostiges, scheußliches Wetter.

Kapitän Davies wollte wissen, ob es — falls die Umstände dafür sprachen — überhaupt ratsam war, Passagiere an Land zu bringen. Anfangs hatte Buckley das bezweifelt; heute bezweifelte er es mehr denn je. Er packte mit an, um die Barkasse oberhalb der Flut zu sichern, dann stapfte er ein paar Schritte landeinwärts durch den Kies, die Füße nass, auf Mantel, Haar und Schnurrbart den Raureif der Salzwassergischt, hinter sich fünf sprachlose White Line Seeleute mit grimmigen Bärten. Hier mochte einst der Hafen von Queenstown gestanden haben; doch Buckley kam sich eher wie ein Kolumbus oder Pizarro vor, allein auf einem neuen Kontinent, vor sich den aufragenden Dschungel mit seiner ganzen Urgewalt, seinen Verlockungen und Gefahren. In gebührendem Abstand von den Bäumen ließ er anhalten.

Sie erinnerten an Bäume. Dass er sie insgeheim so nannte, behielt Buckley für sich. Schon auf der Brücke hatte er seinen Augen nicht getraut: gewaltige blaue oder rostrote Stengel, an denen in dichten Büscheln Nadeln wuchsen. Manche Bäume waren an der Spitze eingerollt wie Farne. Andere öffneten sich zu Kelchen oder hatten knollige Pilzköpfe, die an die Kuppeln türkischer Gotteshäuser erinnerten. Die Zwischenräume waren so eng und finster wie Dachsbauten und voller Nebelschwaden. Die Luft roch nach Kiefer, dachte Buckley, aber mit einem seltsamen Beigeschmack, bitter und aufdringlich wie Menthol oder Kampfer.

So sollte ein Wald nicht aussehen und auch nicht riechen, und — schlimmer vielleicht — sollte er sich so auch nicht anhören. In einem Wald, überlegte er, einem anständigen Winterwald an einem windigen Tag — die Wälder seiner Kindheit in Maine —, da sollten die Äste knarren, die Blätter mit dem Regen um die Wette flüstern und sonst noch ein paar vertraute Geräusche zu hören sein. Diese Bäume mussten hohl sein, überlegte Buckley, denn der Wind entlockte ihnen langgezogene, tiefe, melancholische Töne, und die wenigen gestürzten Exemplare am Ufer hatten wie riesige Strohhalme ausgesehen. Und die Büschel aus Nadeln klapperten leise. Wie hölzerne Stabspiele. Wie Knochen.

Buckley hätte am liebsten kehrtgemacht, vor allem wegen dieser Geräuschkulisse. Aber er hatte Befehle. Er riss sich zusammen und führte die Expedition ein paar Yards den Kiesstrand hinauf bis an den Rand dieses unirdischen Dschungels, wo aus dem harten, schwarzen Boden kniehohes gelbes Ried wuchs. Ihm war zumute, als müsse er eine Fahne aufpflanzen… aber welche? Nicht das Sternenbanner, bestimmt nicht den Union Jack. Vielleicht die Star-and-Circle Flagge der White Star Line. We claim these lands in the name of God and J. Pierpont Morgan.[5]

 »An Ihren Füßen, Sir«, warnte der Seeman hinter ihm.

Buckley riss den Blick nach unten und sah gerade noch, wie etwas von seinem linken Stiefel wegflitzte. Etwas blasses, vielbeiniges und fast so lang wie eine Kohlenschaufel. Es verschwand mit einem pfeifenden Kreischen. Buckley war erschrocken, sein Herz hämmerte.

 »Jesus, mein Gott!«, rief er aus. »Das ist weit genug! Der reine Wahnsinn, hier Passagiere abzusetzen. Ich sage Kapitän Davies…«

Doch der Seemann starrte noch immer auf Buckleys Füße.

Widerwillig blickte Buckley ein zweites Mal nach unten.

Da war noch eine andere Kreatur. Eine Art Tausendfüßler, aber dick wie eine Anakonda und so fahlgelb wie das Riedgras. Das konnte Tarnung sein. Das gab es in der Natur. Das war auf eine schreckliche Weise hochinteressant. Er trat einen halben Schritt zurück und rechnete damit, dass das Ding Reißaus nahm.

Es tat genau das Gegenteil. Wie der Blitz schnellte es in Buckleys Richtung und wand sich in einer einzigen, jähen Schlingbewegung um sein rechtes Bein, wie die explosive Entfesselung einer Sprungfeder. Buckley spürte einen Druck und ein heißes Prickeln, als sich die Spitze der dolchartigen Schnauze durch die Hose in seine Haut bohrte.

Es hatte ihn gebissen!

Er schrie und trat. Er brauchte etwas, um das Monster loszuhebeln, einen Stock, ein Messer, aber da war nichts als das spröde, nutzlose Riedgras.

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5

J. P. Morgan and Co.: 1895 in den USA gegründetes internationales Bankunternehmen.