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Nie hatte galaktisches Bewusstsein Größeres in Angriff genommen. Es stieß an die Grenze des Machbaren und schien sie nicht selten zu überschreiten. Die Noosphären und ihre Bewusstseinsknoten, die Turingmaschinen, große und kleine, und die virtuellen Maschinen im isostatischen Netzwerk der Realität — sie alle hatten schier Unendliches zu leisten, eine Aufgabe, die mehr als zehn Millionen Jahre in Anspruch nehmen sollte.

Doch schließlich war es vollbracht, das Ergebnis war eine holistische Bibliothek der galaktischen Geschichte und eine Festung gegen die Verflüchtigung der Materie. Die Noosphären tanzten einen orbitalen Reigen um ihr Werk. Wer weiß, vielleicht brüteten ja die Singularitäten hinter ihren heiligen Grenzen schon wieder neue Universen aus. Diese Alternative wurde gründlich erwogen; zwischen diesem Archiv und anderen wurden schwache Signale ausgetauscht, Konzepte für neue Universen, Ideen, die selbst das Bewusstsein verzagen ließen. Vielleicht war es eines Tages…

Aber das war Spekulation. Vorerst ergötzte sich das Bewusstsein an dem, was es geschaffen hatte.

Monofilamente aus Higgs-Verzerrung fluteten das Archiv und wickelten die Geschichte folgerichtig auf.

Bewusstseinsknoten erster und zweiter Ordnung machten sich ein Vergnügen daraus, die Vergangenheit zu erkunden — ein-, zwei-, dreimal, wobei das Archiv immer wieder gelesen wurde. Das Wissen rollte sich ein, lernte sich selbst kennen; Philosophen unter den Noosphären debattierten den Unterschied zwischen Wissen und Gewusstem.

Unversehens offenbarte sich einige 103 Jahre nach Fertigstellung die Tragödie.

Das Archiv, so entdeckten die Noosphären, war klammheimlich unterwandert und korrumpiert worden. Quasi-bewusste Entitäten — sich selbst reproduzierend und parasitären Code erzeugend, der sich im Netzwerk der Higgs-Signale zwischen den Galaxien versteckte — sie hatten sich der Strukturprotokolle des Archivs bemächtigt. Information ging verloren, unwiderruflich, von Minute zu Minute.

Schlimmer noch: Information wurde verfälscht.

* * *

Das Archiv wurde nach und nach entstellt. Quasi-bewusste virtuelle Entitäten, Relikte eines Krieges, der lange vor dem hiesigen Eklektischen Zeitalter eine ferne Galaxie verwüstet hatte, benutzten das Archiv als Plattform, um ihre Algorithmen vor dem Wärmetod zu retten. Sie empfanden nur Verantwortung für ihresgleichen, wussten aber sehr wohl um die Erbauer und den Zweck des Archivs. Sie hatten das Archiv nicht einfach gekapert, sie benutzten es sozusagen als Geisel.

Aus statischen Erinnerungen, die als Aufzeichnungen in das Archiv eingebettet waren, entstanden praktisch neue Saat-Bewusstseine: neue Lebewesen, gefangen in einer Epistruktur, die sie nicht wahrnehmen konnten, und manipuliert durch Entitäten, die ihr Begriffsvermögen überstiegen. Diese neuen Lebewesen, gleichwohl Produkte eines verfälschten Archivs, durften weder aufgehalten noch gelöscht werden. Das wäre eine unverzeihliche Sünde gewesen. Rein theoretisch hätte man das Archiv leeren, säubern und neu beschicken können… das aber wäre einem gigantischen Genozid gleichgekommen.

Außerdem mussten diese Lebewesen gespeichert, erinnert werden. Eine Aufgabe, der sich das Bewusstsein seit jeher verschrieben hatte — um seinem Tod zu entgehen. Diese neue und seltsame Quasi-Geschichte, die sich im Archiv entwickelte, durfte nicht einfach aufgegeben werden.

Aus Angst vor Ansteckung gingen die Noosphären auf Distanz; das Bewusstsein ging mit sich zu Rate und Tausende von Jahren verstrichen.

Fest stand, das Archiv musste wiederhergestellt werden. Die Eindringlinge mussten vertrieben werden. Wenn nichts unternommen wurde, gingen die jungen Saat-Bewusstseine irgendwann verloren und mit ihnen das ganze Archiv. Diese Viren würden nicht eher ruhen, bis das erkaltende Universum nur mehr ihren eigenen, rücksichtslosen Code enthielt. Die Säuberung des Archivs würde viel problematischer sein als seine Errichtung, weil sie innerhalb des Archivs beginnen musste. Milliarden von individuellen Bewusstseinsknoten mussten das Archiv betreten, und zwar physisch wie virtuell. Und sie würden auf listenreichen Widerstand stoßen.

Individuen — Geister praktisch —, deren Identität längst mit den Noosphären verschmolzen war, begaben sich ihrer äonenlangen Verklärung und wurden nahezu wieder sterblich, nur um in das korrumpierte Archiv zu können.

Unter diesen Milliarden von Bewusstseinsknoten war ein uralter terrestrischer, der einmal Guilford Law geheißen hatte. Dieses Saat-Bewusstsein, kaum komplex genug, um sein uraltes Gedächtnis zu bewahren, stürzte sich mit unzähligen anderen in die fraktale Tiefe des Archivs.

Der letzte Krieg nahm seinen Anfang.

Guilford Law wusste, was Krieg war. Immerhin war er im Krieg gefallen.

Zweites Buch

Winter, Frühling 1920–21

»Esse est percipii.«[35]

— BISCHOF BERKELEY

Kapitel Fünfzehn

AUS DEM TAGEBUCH VON GUILFORD LAW:

Ich möchte diese Ereignisse erzählen, solange ich es noch kann.

Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe, und es wäre ein weiteres, wenn auch nur einer von uns den Winter überstünde. Ja, wir haben Unterschlupf gefunden — später mehr über diesen unsäglich merkwürdigen Ort —, aber die Lebensmittel sind knapp, das Klima ist frostig und da ist die ständige Angst vor einem weiteren Überfall.

Heute bin ich noch geschwächt und das Tageslicht schwindet bereits. (Ich halte den Bleistift, wie Lily es tut, und meine Schrift sieht aus wie die ihre.)

Ich hoffe, das Tagebuch findet eines Tages zu euch, und Lily wird diese Worte lesen. Ich denke an dich, Caroline, und an Lily, so oft und so intensiv, dass ich euch fast berühren kann. Seit das Fieber zurückgeht, weiß ich, wie sehr es daran beteiligt war.

Von all meinen Fieberphantomen vermisse ich nur zwei: dich und Lily.

Morgen mehr, wenn die Umstände es erlauben.

* * *

Drei Monate sind vergangen, seit uns die Partisanen überfallen haben. Ich war sehr lange ohne Bewusstsein und habe lange nur phantasiert. Das Folgende ist eine Rekonstruktion der Ereignisse. Besonders Avery Keck, John Sullivan und ›Diggs‹ Digby haben mir geholfen, die Lücken zu füllen.

Ich muss mich kurz fassen, solange es mir an Kraft und Zeit mangelt. (Das Licht, das durch die hohen Steinscharten fällt, ist launisch, weil es durch Wachstuch und Tierhäute gefiltert wird. Ich muss jetzt meinen bescheidenen Beitrag für das Wohlergehen aller leisten — ich helfe hauptsächlich Diggs, der seinen linken Arm nicht mehr benutzen kann. Ich werde gleich beim Kochen unserer kargen Mahlzeit gebraucht. Diggs schürt bereits das Feuer und Wilson Farr ist nach draußen, um einen Eimer Schnee zu holen.)

Wir hatten also den Bodensee verlassen und näherten uns den Alpen, als wir von einer Bande bewaffneter Partisanen überfallen wurden, die allem Anschein nach nur eins im Sinn hatten: uns umzubringen und auszuplündern. In den ersten Salven verloren wir Ed Betts, Chuck Hemphill und Emil Swensen — und alles wäre noch viel schlimmer gekommen, hätten wir näher am Gehölz kampiert. Dass Tom Compton so kurz entschlossen gehandelt hat, war unsere Rettung. Er führte uns um eine weite, ringförmige Knochenhalde der hiesigen Insekten herum, eine Falle, in die unsere Verfolger hineintappten und die ihnen zum Verhängnis wurde. Die nicht darin umkamen, flohen oder wurden von uns erschossen.

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35

Sein ist wahrgenommen werden.