Schlüssel wozu?, wollte ich fragen.
Er ließ mir keine Zeit. »Wir haben sie nicht gründlich genug untersucht. Diese Ruine erstreckt sich über Meilen.«
»Tom hat sich umgesehen.«
»Kurz. Und auch Tom räumt ein…«
Was räumt er ein? Doch Sullivan starrte abwesend ins Leere. Ihn jetzt zu drängen, wäre zwecklos gewesen. Seine Gemütsverfassung war mir nur allzu vertraut.
Darwinia stellt einige von uns auf die Probe. Finch glaubt unerschütterlich, dass dieser Kontinent ein Wunder ist, auch wenn er es vermutlich bedauert, dass Gott sich in das vielsagende Schweigen dieser Hügel und Wälder hüllt. Wohingegen Sullivan nichts bleibt, als sich tagtäglich mit dem Wunderbaren herumzuschlagen.
Wir tranken unseren Tee und froren unter unseren Armeedecken. Seit dem Überfall bestand Tom auf einer Nachtwache. Zwei Männer am mitternächtlichen Feuer war unsere Bestleistung. Ich frage mich oft, worauf wir eigentlich achtgeben sollen, denn unsere Sicherheitsvorkehrungen haben einem neuerlichen Überfall so gut wie nichts entgegenzusetzen. Man würde uns so oder so überwältigen. Wozu noch Alarm schlagen?
Doch die Stadt scheint zur Vorsicht zu mahnen.
»Guilford«, sagte Sullivan nach längerem Schweigen. »Wenn Sie schlafen… träumen Sie da in letzter Zeit?«
Die Frage überraschte mich.
»Selten«, sagte ich.
Aber das war gelogen.
Haben Träume etwas zu bedeuten, Caroline?
Ich glaube nicht an Träume. Ich glaube nicht an den Wachsoldaten, der so aussieht wie ich, auch wenn er immer wieder da ist, sobald ich die Augen schließe. Zum Glück reitet Sullivan nicht darauf herum, wir schweigen und sitzen die anberaumte Zeit einfach nur aus.
Mitte Januar. Unerwartete Ausbeute der letzten Jagd: reichlich Fleisch, gebraten und schmackhaft zubereitet, Winterkeime, sogar zwei darwinische ›Vögel‹ — Nachtfalken, hirnlose, zweibeinige Kreaturen mit lederartigen Flügeln, die aber wie Lammfleisch schmecken, vor allem saftig und kräftig. Alle aßen mit großem Appetit, außer Paul Robertson, der eine Grippe auskuriert. Selbst Finch lächelte anerkennend.
Sullivan gibt keine Ruhe, er will die Ruinen untersuchen — er ist wie besessen von der Idee. Und jetzt, da wir unsere Speisekammer gefüllt haben und das Wetter etwas milder wird, da will er zur Tat schreiten.
Als Handlanger und Gepäckträger hat er Tom Compton und mich auserkoren. Morgen brechen wir auf, eine zweitägige Exkursion ins Herz der Stadt.
Ob das wohl vernünftig ist? Um ehrlich zu sein, ich fürchte mich ein bisschen.
Kapitel Sechzehn
Der Winter in London war ungewöhnlich kalt, Caroline konnte sich nicht erinnern, in Boston jemals einen so scharfen Winter erlebt zu haben. Ein Wolfswinter, wie Tante Alice ihn nannte. Die Versorgungsschiffe kamen seltener, seit die Themse im Eis erstickte, obwohl der Hafen nur so kochte vor Industrie und die Schornsteine den Himmel verrußten. Jedes Haus in London trug dazu bei: eine rußige Fahne, wer Kohle verfeuerte, eine graue, wer Torf oder Holz verbrannte. Mittlerweile fand Caroline einen gewissen Trost in diesen düsteren Rauchwolken, sie symbolisierten, dass die Wildnis an Terrain verlor. Caroline begriff inzwischen, was London wirklich war: keine ›Siedlung‹ — wer wollte schon in diesem kontraproduktiven, garstigen Land siedeln? — nein, London war ein Brückenkopf gegen eine allzu widerspenstige Natur.
Letzten Endes gewann die Natur ja doch. Das tat sie immer. Doch Caroline freute sich mittlerweile über jede gepflasterte Straße und jeden gestürzten Baum.
Mitte Januar brachte ein Dampfer eine Warenladung, die Jered letzten Sommer bestellt hatte. Darunter Ketten- und Seilmaterial auf gewaltigen Spulen, Paletten voller Nägel, Pech und Teer und Bürsten und Besen. Jered mietete einen Fuhrmann, der die Ware eine Woche lang jeden Morgen vom Lagerhaus zum Geschäft karrte. Heute schleppte Jered die letzte Fuhre in den Vorratsraum und zahlte den Fahrer aus, dessen Pferde kleine Dampfwolken in die zugige Seitengasse schnaubten, derweil Caroline und Alice im Laden um- und einräumten. Tante Alice arbeitete unermüdlich, wischte immer wieder die Hände an der Schürze ab und redete kaum.
Sie mied Carolines Augen. So war sie schon seit Monaten: kühl, missbilligend, auf eine brüske Weise höflich.
Nach der schockierenden Nachricht vom Überfall auf die Weston hatte ein Wort das andere ergeben: Alice wollte nicht wahrhaben, dass Guilford tot war. Was das anging, blieb sie resolut.
Für Caroline stand es schlicht und einfach fest, dass er tot war; gleich als Jered ihr vom Angriff auf die Westen berichtet hatte, da hatte sie es gewusst, obwohl nichts bewiesen war; die Expedition war flussaufwärts abgesetzt worden. Doch selbst Jered musste einräumen, dass die Männer gegen entschlossene Banditen keine Chance gehabt hätten. Caroline behielt ihre Gefühle für sich, anfangs zumindest. Der Sommer war noch nicht zu Ende, da war sie im Grunde ihres Herzens bereits Witwe.
Außer Caroline wollte es niemand wahrhaben. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch der September verstrich ohne Nachricht und im Herbst schwand die Hoffnung und bis zum Winter war sie praktisch erloschen.
Nichts sei bewiesen, sagte Alice. Und Wunder geschähen täglich. »Eine Ehefrau darf die Hoffnung nicht aufgeben«, ermahnte sie Caroline.
Aber eine Frau weiß es manchmal besser.
Die Meinungsverschiedenheit war nicht beigelegt, konnte es nicht sein. Man sparte das Thema einfach aus; aber es färbte jede Unterhaltung, warf seinen Schatten über die Mahlzeiten und nistete im Ticken der Uhr. Caroline war dazu übergegangen, Schwarz zu tragen. Alice verwahrte ostentativ Guilfords Koffer im Flurspind.
Aber heute, fand Caroline, sprach aus Alicens Verhalten mehr als nur diese müde Meinungsverschiedenheit.
Noch ehe die morgendliche Arbeit getan war, sollte Caroline einen Hinweis bekommen. Alice ging hinter die Theke, um einen Kunden zu bedienen, und kam zurück ins Warenlager, im Gesicht den verkniffenen Ausdruck, der verriet, dass sie etwas Unangenehmes zu sagen hatte. Sie blickte Caroline mit verengten Augen an und Caroline gab sich Mühe, dem Blick standzuhalten.
»Es ist schon schlimm genug, wenn man Trauer trägt«, sagte sie erbittert, »bevor man sicher weiß, dass jemand tot ist. Aber es ist schlimmer, Caroline, viel, viel schlimmer, nicht mehr zu trauern.«
Sie weiß Bescheid, dachte Caroline.
Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte.
Am Abend gingen Jered und Alice ins Crown and Reed, wie der hiesige Pub hieß. Als Caroline sicher war, dass sie außer Sichtweite waren, brachte sie Lily die Treppe hinunter und wenige Schritte durch die Kälte zu Mrs. de Koenig, einer verschwiegenen Nachbarin, die einen Kanadischen Dollar nahm, um auf das Mädchen aufzupassen. Caroline verabschiedete sich von Lily, knöpfte auch den letzten Knopf gegen die bittere Kälte zu und machte sich auf den Weg.
Die Sterne zitterten über dem vereisten Kopfsteinpflaster. Gaslampen streuten ihr fahles Licht über den verharschten Schnee. Caroline eilte gegen den Wind und litt unter Schuldgefühlen. Warum zog sie sich den Schuh auch an, den ihre Tante ihr hinhielt? Sie tat nichts Schlechtes. Guilford war tot. Ihr Mann lebte nicht mehr. Sie war nicht mehr verheiratet.
Colin Watson wartete Ecke Market- und Thames Street. Er umarmte sie kurz und winkte ein Taxi heran. Er lächelte, als er ihr hinaufhalf, ein nichtssagendes Lächeln, das halb unter dem albernen Schnurrbart verschwand. Vermutlich unterdrückte er ihr zuliebe seine natürliche Melancholie. Seine Hände waren groß und stark.