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Sullivan holte tief Luft, aber wie unter einem Würgegriff. Guilford sah hin und erschrak, als die Augen des Botanikers aufsprangen.

Sie starrten ihn an — oder durch ihn hindurch —, schwer zu sagen, was sie taten. Eine Pupille war grotesk geweitet, das Weiße blutrot gerändert.

 »Wir sterben nicht«, ächzte Sullivan.

Guilford widerstand dem Drang zurückzuweichen. »He!«, sagte er. »Dr. Sullivan, nicht bewegen! Nicht aufregen. Alles wird gut, entspannen Sie sich. Tom holt Hilfe.«

 »Hat er Ihnen das nicht gesagt? Hat Guilford Ihnen nicht gesagt, dass Guilford nicht stirbt?«

 »Nicht sprechen, Dr. Sullivan.« Nicht sprechen, wiederholte Sullivan bei sich, sonst piss ich mir vor Angst in die Hose.

Sullivans Lippen verrutschten zu der Seite, wo die Augenbraue Runzeln in die Stirn schob, eine schreckliche Grimasse. »Sie haben von ihnen geträumt…«

 »Bitte nicht, Dr. Sullivan.«

 »Grün wie altes Kupfer. Wirbelsäule vorne… Sie fressen Träume. Fressen alles!«

Tatsächlich. Doch Guilford schob die Erinnerung beiseite. Er durfte einfach nicht in Panik geraten.

 »Guilford!« Die linke Hand des Botanikers schnellte vor und bekam Guilfords Handgelenk zu packen, während die rechte reflexartig ins Leere schnappte. »Hier ist eine von den Stellen, wo die Welt endet!«

 »Sie reden wirres Zeug, Dr. Sullivan. Bitte, versuchen Sie zu schlafen. Tom wird bald zurück sein.«

 »Sie sind in Frankreich gestorben. Im Kampf gegen die Boches. Ausgerechnet.«

 »Ich sage das nicht gerne, aber Sie machen mir Angst, Dr. Sullivan.«

 »Ich kann nicht sterben!«, beharrte Sullivan.

Ächzte und hauchte sein Leben aus.

* * *

Nach einer Weile schloss Guilford ihm die Augen.

Er saß noch etliche Stunden bei Dr. Sullivan, summte unmelodisch vor sich hin und wartete, dass irgendetwas aus dem Dunkel geklettert kam, um ihn heimzusuchen.

Kurz vor Morgengrauen fiel er erschöpft in Schlaf.

Sie wollen endlich in die Welt hinaus!

Guilford spürt ihre Wut, ihre Enttäuschung.

Er kann sie nicht benennen. Eigentlich existieren sie noch nicht. Sie sind gefangen zwischen Idee und Verwirklichung, unfertig, halb bewusst, verzehren sich nach Fleischwerdung. Physisch sind sie vage, grüne Schemen, größer als Menschen, gepanzert, stachelig, mit riesigen Schnauzen, die sich öffnen und schließen in stummer Wut.

Nach der Schlacht hatte man sie hierher verbannt.

Das sind nicht meine Gedanken. Guilford dreht sich, er ist schwerelos. Er schwebt tief unten im Schacht, es ist nicht Wasser, das ihn trägt. Es ist die Luft, die so strahlt. Irgendwie ist dieses unverursachte Licht zugleich Luft und Stein und er selbst.

Der Wachsoldat schwebt neben ihm. Ein schmächtiger Mann in Uniform. Soldat der US-Army. Licht durchdringt ihn, geht von ihm aus. Es ist der Soldat aus Guilfords Träumen, der Mann könnte sein Zwillingsbruder sein.

Wer bist du?

Du selbst, erwidert der Wachsoldat.

Das ist nicht möglich.

Scheint so. Aber es stimmt.

Sogar die Stimme ist ihm vertraut. Es ist die Stimme, mit der Guilford zu sich selbst spricht, die Stimme seiner Gedanken.

Und wer sind die da? Er meint die gebannten Kreaturen. Dämonen?

Könnte man sagen. Oder Ungeheuer. Sie wollen nur eins: ihre Existenz. Letzten Endes wollen sie alles sein, was existiert.

Guilford kann sie jetzt deutlicher sehen. Schuppen und Scheren, die vielen Arme, die schnappenden Zähne.

Tiere?

Viel mehr als Tiere. Aber eben auch Tiere.

Du hast sie hier eingesperrt?

Ja. Nicht ich allein. Andere haben geholfen. Aber der Bann ist unvollkommen.

Was willst du damit sagen?

Siehst du, wie sie auf der Schwelle zur Existenz zittern? Nicht lange, und sie nehmen wieder physische Gestalt an. Wenn wir sie nicht endgültig bannen.

Bannen? fragte Guilford. Er hat jetzt Angst. Er begreift zu wenig. Er spürt den enormen Druck aus der Tiefe, das schreckliche, seit Äonen vereitelte und aufgestaute Verlangen, das auf Befreiung wartet.

Wir werden sie bannen, sagte der Wachsoldat gelassen.

Wir?

Du und ich.

Schockierende Worte. Guilford spürt die unsägliche Bürde der Verantwortung. Sie ist schwer wie der Mond. Ich begreife nichts von alledem!

Geduld, kleiner Bruder, sagt der Soldat und trägt ihn durch das unheimliche Licht nach oben, durch den Nebel und die Hitze der vereitelten Fleischwerdung, wie ein Engel in der abgerissenen Uniform der US-Army, und dann löst er sich in Luft auf.

* * *

Tom Compton stand über ihm, in der Hand eine brennende Fackel.

Ich würde ja aufstehen, sagte sich Guilford, wenn ich nur könnte. Wenn es hier nicht so kalt wäre. Wenn sein Körper nicht überall so steif wäre. Wenn er seine wirren Gedanken ordnen könnte. Er hatte etwas verdammt Wichtiges zu sagen — es betraf Dr. Sullivan.

 »Er ist gestorben«, sagte Guilford. Das war es. Die Leiche lag neben ihm, zugedeckt. Das Gesicht guckte heraus, lag bleich und reglos im Schein der Fackel. »Tut mir Leid, Tom.«

 »Ich weiß«, sagte Tom. »Es war gut, dass Sie bei ihm waren. Können Sie gehen?«

Guilford versuchte auf die Füße zu kommen. Mit dem Erfolg, dass er sich die Hüfte an einer Steinkante schlug.

 »Ich stütze Sie«, sagte der Grenzer.

Schon wieder fühlte er sich getragen.

* * *

Guilford kämpfte mit bleierner Müdigkeit. Der taube Körper wollte nichts weiter als die Augen schließen und ausruhen. »Wir machen ein ordentliches Feuer, wenn wir aus dem Loch sind«, ermunterte ihn der Grenzer. »Treten Sie fester auf.«

 »Wie lange hat es gedauert?«

 »Drei Tage.«

 »Drei?«

 »Es gab Probleme.«

 »Wer ist mitgekommen?«

Sie hatten den Rand des Schachts erreicht. Das Innere der Kuppel schwamm in wässrigem Tageslicht. Eine ausgemergelte Gestalt saß mit hängenden Schultern an eine Steinplatte gelehnt, die Segeltuchkapuze ins Gesicht gezogen. Der Dunstschleier verwischte die Züge.

 »Finch«, sagte Tom. »Finch ist mitgekommen.«

 »Finch? Wieso Finch? Was ist mit Keck und mit Robertson?«

 »Sie sind tot, Guilford. Keck, Robertson, Diggs, Donner und Farr. Alle tot. Und uns blüht dasselbe, wenn Sie nicht in Bewegung bleiben.«

Guilford stöhnte und schlug die Hand vor die Augen.

Kapitel Neunzehn

London wurde vom Frühling überrascht. Das auftauende Sumpfland im Osten und Westen verlieh der Luft einen erdigen Geruch. Die Thames Street, frisch gepflastert von den Docks bis zum Tower Hill, rasselte vor Geschäftigkeit. Im Westen wurde schon wieder an der Kuppel der neuen St. Paul’s Cathedral gearbeitet.

Caroline wich einer Schafherde aus, die zum Markt getrieben wurde; sie hatte selbst das Gefühl, auf dem Weg zur Schlachtbank zu sein. Seit Wochen hatte sie jeden Kontakt mit Colin Watson vermieden, seine Einladungen abgelehnt und nicht einmal seine Briefchen gelesen. Sie wusste selbst nicht, warum sie jetzt zur Candlewick Street ging, um ihn in dieser Imbissstube zu treffen — vielleicht weil sie das Gefühl nicht loswurde, ihm etwas zu schulden, und wenn es nur eine Erklärung war. Sie konnte doch nicht sang- und klanglos nach Amerika abreisen.