»Das ist überhaupt nicht schlimm«, erwiderte Caroline. »Das ist doch nur Gerede. Die Leute sind ärgerlich, früher oder später werden sie sich wieder beruhigen.«
»Wir werden bald mit dem Schiff fahren«, meinte Lily.
»So Gott will.«
Caroline saß nicht mehr mit Alice und Jered bei Tisch. Sie hätte für sich und Lily ein Zimmer im Empire gemietet, wenn die Zuwendung von zu Hause großzügiger gewesen wäre. Doch selbst die Mahlzeiten im Pub waren zur Zeit eine Qual, immer und überall wurde nur von Krieg geredet. Ihre Tante und ihr Onkel wahrten die Form, wenn sie ihr nicht aus dem Weg gehen konnten; um Lily scharwenzelten sie allerdings herum. Caroline konnte besser damit umgehen, seit sie sich mit Colin ausgesprochen hatte. Alice tat ihr beinahe Leid — arme treu ergebene Alice, gefangen in einem Netz aus Schuld, das so dicht war wie die Locken, die sie ins graumelierte Haar flocht.
»Schlaf«, sagte Caroline an diesem Abend zu Lily, packte sie ein, strich das Baumwolllaken glatt. »Schlaf gut. Bald verreisen wir.«
So oder so.
Lily nickte ernst. Seit Weihnachten fragte sie nicht mehr nach ihrem Daddy. Sie hatte immer nur ausweichende Antworten bekommen.
»Weg von hier?«, fragte Lily.
»Weg von hier.«
»Irgendwohin, wo uns nichts passieren kann?«
»Irgendwohin, wo uns nichts passieren kann.«
Ein sonniger Morgen. Die Fenchurch wurde asphaltiert, der Geruch von Teer wehte über die Stadt, überall das Klappern von Hufen und das flache Geklingel von Pferdegeschirr.
Colin wartete in der Thames Street nahe den Docks, die Sonne im Rücken, Zeitung lesend. Ihre Erregung wuchs. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie hatte sich nichts zurechtgelegt. Sie brachte nur ein Sammelsurium an Hoffnungen und Ängsten mit.
Sie war kaum ein paar Schritte auf ihn zugegangen, als in der Stadtmitte die Sirenen aufheulten.
Das Geräusch lähmte sie, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Die Menschen am Kai standen auch wie gelähmt. Colin sah bestürzt von der Zeitung auf. Caroline hob die Arme; er lief auf sie zu. Die Sirenen heulten weiter.
Sie fiel ihm in die Arme. »Was ist das?«
»Ich weiß auch nicht.«
»Ich will meine Tochter haben.« Irgendetwas Schlimmes trug sich zu. Lily würde Angst haben.
»Dann komm.« Colin nahm ihre Hand und drückte sanft zu. »Wir finden Lily. Aber wir müssen uns beeilen.«
Der Wind kam aus dem Osten — ein gleichbleibender Frühlingswind, rauchig und duftend. Der Fluss war ruhig und mit weißen Segeln gespickt. Im Süden am sumpfigen Ufer der Themse tauchten Schornsteine von Kanonenbooten auf.
Kapitel Zwanzig
Es sei einfach, hatte Crane ihm erklärt. Wir sind Teil von etwas, das stärker wird. Und sie sind Teil von etwas, das schwächer wird.
Vielleicht sah es aus seinem Blickwinkel so aus. Wie ein vergoldetes Suppositorium war Crane in die Reihen der Washingtoner Elite geflutscht — na ja, der Halbelite, der minderen Elite. Kaum ein paar Monate in der Stadt, und er arbeitete bereits in irgendeiner diffusen Funktion für Senator Klassen; hatte sich vor kurzem sogar ein eigenes Apartment zugelegt (den Göttern sei Dank für dieses Almosen).
Crane war fester Bestandteil des Sanders-Moss-Salons und konnte sich ungestraft mit Elias Vale in der Öffentlichkeit zeigen.
Wohingegen Vales Seancen nur noch ein dünnes Rinnsal waren, die Klientel war geschrumpft und nicht mehr so betucht und selbst Eugene Randall machte sich rar.
Randall war natürlich von dem Ausschuss vorgeladen worden, der das Schicksal der Finch-Expedition untersuchte. Vielleicht musste selbst eine verstorbene Gattin hinter derart wichtigen Belangen zurücktreten. Die Geduld der Toten war ja allbekannt.
Trotzdem fragte Vale sich seit einiger Zeit, ob die Götter nicht ihre Lieblinge hatten.
Er suchte Zerstreuung, wo immer sie zur Hand war. Einer von seinen Neuzugängen, eine ältliche Engelmacherin, hatte ihm die bernsteinfarbene Phiole mit Morphium nebst der in Silber getriebenen Spritze überlassen. Hatte ihm gezeigt, wie man eine Vene fand und hervortreten ließ und mit der Hohlnadel hineinstach. Der Vorgang ließ ihn abstrakt an Bienen und Gift denken. Oh, Stachel des Vergessens. Er wurde ihm zur lieben Gewohnheit.
Als er am Landsitz von Sanders-Moss aus dem Taxi stieg, trug er die aufklappbare, hübsche Silberschatulle von der Größe eines Zigarrenetuis in der Rocktasche. Er hatte nicht vor, das Besteck zu benutzen. Doch der Nachmittag versprach nichts Gutes. Das Wetter war zu nass für den Winter und zu kalt für den Frühling. Eleanor begrüßte ihn mit einem Anflug von Nervosität — nur aus einem verschwundenen Taufkleidchen lässt sich so viel Kapital schlagen, dachte Vale — und nach dem Lunch begann ihn ein beschwipster, junger Kongressabgeordneter zu hänseln.
»Börsentips, Mr. Vale? Sie sprechen mit den Toten, die haben doch sicher ein paar heiße Tips. Haben Tote überhaupt die Möglichkeit zu spekulieren?«
»In diesem Distrikt, Verehrtester, wird nicht einmal gewählt.«
»Habe ich einen wunden Punkt berührt, Mr. Vale?«
»Doktor Vale.«
»Und was für ein Doktor wäre das?«
Doktor der Unsterblichkeit, dachte Vale. Im Gegensatz zu dir, du verwesendes Stück Fleisch.
»Sie müssen wissen, Mr. Vale, ich habe rein zufällig einen Blick in Ihre Vergangenheit geworfen. Habe ein wenig recherchiert, besonders als Eleanor mir sagte, wie viel sie bezahlt hat, damit Sie ihr aus der Hand lesen.«
»Ich lese nicht aus der Hand.«
»Nein, aber ich wette, Sie wissen, wie man eine Bilanz liest.«
»Das ist unverschämt.«
Der Kongressabgeordnete lächelte schadenfroh. »Nanu, wer hat Ihnen das denn gesagt, Mr. Vale? John Wilkes Booth?«
Jetzt lachte sogar Eleanor.
»Das ist nicht die Gästetoilette!« Olivia, das Hausmädchen, pochte verärgert an die Tür. »Das ist die Personaltoilette!«
Vale stellte sich taub. Das Injektionsbesteck lag aufgeklappt auf dem grün gekachelten Boden. Er ließ sich auf den Klodeckel plumpsen. Er hatte das Bergkristallfenster aufgekurbelt; ein kühler Regen spritzte herein. Die Kette des WC klopfte rastlos gegen die feuchte, weiße Wand.
Er hatte den Rock ausgezogen, rollte den linken Ärmel hoch. Er klopfte auf die Achsel, bis sich eine Vene zeigte. Rutscht mir alle den Buckel runter, dachte er und zog ein sehr ernstes Gesicht.
Der erste Schuss war eine Wohltat, hüllte ihn ein wie mit einer Kinderdecke, eine tiefe Ruhe überkam ihn. Die Toilette sah plötzlich verschwommen aus, als sei alles in glänzendes Transparentpapier gewickelt.
Aber ich bin unsterblich, dachte Vale.
Und vor seinem geistigen Auge stach Crane sich das Messer durch den Handrücken. Crane hatte eine perverse Vorliebe zur Selbstverstümmelung bewiesen. Er durchbohrte sich mit Messern, schnitt sich mit Rasierklingen, stach sich mit Nadeln.
Na ja, Nadeln weiß ich auch zu schätzen. Kentucky-Whisky hin, Kentucky-Whisky her, es ging nichts über Morphium. Das Vergessen war verlässlicher, irgendwie umfassender. Er brauchte mehr davon.
»Mr. Vale! Sind Sie das?«
»Geh weg, Olivia, danke.«
Er langte wieder nach der Spritze. Ich bin schließlichunsterblich. Ich kann gar nicht sterben. Die Konsequenzen dieser Tatsache wurden allmählich zum Problem.
Diesmal traf die Nadel auf Widerstand. Vale drückte fester zu. Es war, als müsse er Cheddarkäse impfen. Er schien die Vene getroffen zu haben, doch als er den Kolben drückte, begann sich die Haut zu verfärben — ein massiver Flüssigkeitserguss.